Das Geheimnis des Oktoberfestes
Wiesn, Oktoberfest, Eva Lindner

Irgendwo auf der Welt dreht sich immer gerade ein Karussell, und Menschen heben ihre Gläser. Aber nur einen dieser Rummelplätze kennt die ganze Welt. Warum?

von Eva Lindner, Zeit Wissen Magazin, 22. Oktober 2019

Es heißt, man erinnere sich im Leben besser an das, was man gerochen hat, als an das, was man gesehen hat. Oktoberfest – das war für mich als Kind eine Mischung aus gebrannten Mandeln, gebratenen Hendln und dem Parfüm der Erwachsenen, die sich schick gemacht haben. Oktoberfest – das war für mich Freiheit. Wenn mein Bruder und ich am Familientag mit meiner Mutter auf die Wiesn gingen, wussten wir: Heute dürfen wir so viel Autoskooter und Fünferlooping fahren, wie wir wollen. Oktoberfest – das war für uns das Paradies, denn zu Hause wurde eigentlich gespart. Doch an diesem Tag im Jahr wollte meine Mutter uns keine Grenzen setzen, sie wollte uns fliegen lassen. Am liebsten flog ich im Kettenkarussell. Und dieses Fahrgeschäft erzählt vielleicht schon einiges über das Oktoberfest: fest ver- ankert im Boden und doch losgelöst von der Erde. Die Wiederkehr des immer Gleichen und doch etwas ganz Besonderes. Aufregung im Bauch und ein Magen im Ausnahmezustand.

Im September und Oktober heißt es für rund sechs Millionen Besucher jedes Jahr: »Da simma dabei, das ist prima!« Der Oberbürgermeister von München zapfte vor Kurzem das erste Bierfass des 186. Oktoberfests an. Ein Volksfest voller Traditionen und Rituale. Eine Massenveranstaltung, die Jahr für Jahr Rekorde bricht. Ein Exportschlager. 42 Hektar Festwiese, die das Bild Deutschlands im Ausland prägen und Besucher aus der ganzen Welt locken.

Schon bei seiner Gründung war das Oktoberfest ein politisches Instrument, um das Volk zu vereinen und ihm eine gemeinsame Identität zu geben. Denn als Bayern 1806 ein Königreich wurde, verschluckte es weite Teile Frankens und Schwabens. Um die Neubayern für die Kö- nigsfamilie der Wittelsbacher zu begeistern und ein Nationalgefühl zu schaffen, ließ König Max anlässlich der Hochzeit seines Sohnes Ludwig mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen im Oktober 1810 ein Pferderennen ausrichten. Weil die Bayern aus allen Regionen so gern gemeinsam feierten, hat der König die Veranstaltung in den darauffolgenden Jahren wiederholt. Und so seine Macht gesichert. Er ließ Kinder und Jugendliche in Tracht anreisen, damit sie die Brauchtümer der unterschiedlichen Landesteile und trotzdem die Gemeinsamkeit der Bayern betonten.

Die ovale Fläche nannten die Münchner Theresienwiese, zu Bayerisch »Wiesn«. Weil der Hochzeitstag im Oktober lag, behielt das Fest seinen Namen, obwohl es wegen des besseren Wetters später in den September, ans Ende der Ernte, verlegt wurde. 1819 gab der König die Organisation in städtische Hand. Seitdem lässt die Stadt München die größte Party der Welt steigen.

Die Orientierung auf der Festwiese (42 Hektar entsprechen in etwa der Größe der Vatikanstadt) fällt trotz der Massen und selbst nach einigen Maß Bier recht leicht: Zwei parallele je einen Kilometer lange Straßen führen Richtung Riesenrad, rechts davon thront die Patronin Bavaria. Mehr als 1000 Schausteller und Gastronomen bewerben sich jährlich beim Referat für Wirtschaft um einen Platz, gut 550 hat sie dieses Jahr zugelassen. Die Behörde entscheidet nach 13 Kriterien: Neben Ökologie und Optik zählen Zuverlässigkeit, Tradition, Volksfesterfahrung, Ortsansässigkeit und Stammpartnerschaft. Wer also schon immer auf der Wiesn dabei war, wird wieder dabei sein. Mia bleib’n mia. In manchen Zelten können Gäste schon Anfang des Jahres reservieren, obwohl die Stadt die Plätze offiziell erst im Mai vergibt. Die Wiesn-Wirte strotzen vor Selbstbewusstsein.

Als Kind war meine Welt die linke der beiden Straßen, die Welt der Schausteller, Stände und Fahrgeschäfte. Seit mehr als 100 Jahren schleudert hier das Teufelsrad Mutige von der Drehscheibe, die Krinoline dreht zur Blasmusik ihre Kreise, und der Schichtl »enthauptet« seit 1869 Münchner und Münchnerinnen auf der Bühne. Die Bauten und Buden stehen immer an der gleichen Stelle, zuverlässig, jedes Jahr. Schon als Kind kannte ich mich deshalb auf dem größten Volksfest der Welt gut aus. Während ich selbst wuchs und älter wurde, schien die Wiesn zu bleiben, wie sie immer war.

Als Jugendliche begann mich die zweite Straße des Oktoberfests zu faszinieren. Die Straße der Festwirte. Eine Welt aus Ritus und Rausch. Dort reihen sich 17 Großzelte aneinander. Vertreten sind die Wirte-Dynastien Bayerns, die älteste, die Schottenhamels, seit mehr als 150 Jahren. In ihrem Zelt wird »o’zapft«. Der Oberbürgermeister darf beim Anstich maximal drei Schläge brauchen, sonst kann er eigentlich gleich abdanken. Die erste Maß reicht er dem Ministerpräsidenten von Bayern. Das Bier brauen die Brauer nach bayerischem Reinheitsgebot und für das Oktoberfest extra stark mit rund sechs Prozent Alkohol. Viele merken das erst, wenn es schon zu spät ist.

Als ich das erste Mal mitfeierte, wurde mir klar, dass meine Eltern mich – unbewusst bestimmt – gut aufs Bierzelt vorbereitet hatten. Die vielen nervigen Autofahrten in den Urlaub, bei denen ich mir ihre Schlagerkassetten anhören musste, erwiesen sich nun als Vorteil: Ich konnte Anita, Griechischer Wein und Que Sera, Sera von vorn bis hinten mitsingen.

Ende der Neunziger begannen wir Münchner Mädels, Dirndl zu tragen. Das Kleid, in dem wir uns früher wie unsere eigenen Großmütter gefühlt hätten, war plötzlich hip. Es sollte schnell Teil der Wiesn-Choreografie werden: Die Schürze schnüren wir links, wenn wir flirten wollen, und rechts, wenn wir vergeben sind. An einen Biertisch passen acht Leute, außer es heißt: »Hock di hera, samma mehra!« Und das heißt es eigentlich immer, schließlich müssen bis zu 8500 Feiernde ins Zelt passen. Die essen Zünftiges, Hendl, Haxn oder Spätzle, damit die Grundlage stimmt. Wenn sich der Erste auf die Bank stellt, steigen alle hoch, denn unten wackelt es, es riecht schlecht, und es regnet Bier aus Krügen.

Ab 20.30 Uhr saust alle 15 Minuten ein »Zickezackezickezacke« durchs Zelt, und die Kapelle stimmt zum Prosit der Gemütlichkeit an. Dann wird »oans, zwoa, drei, g’suffa«, und beim nächsten Tusch geht alles wieder von vorn los: schunkeln und singen, schunkeln und singen. Gesten zu wiederholen und Bewegungen zu kopieren setzt nicht nur bei Kindern Glückshormone frei. Der Ablauf ist immer gleich, im Schot- tenhamel, im »Himmel der Bayern«, oder in der Ochsenbraterei, wo die Gäste in zwei Wochen an die 130 Ochsen verspeisen. Denen erweist das Publikum die letzte Ehre, wenn es applaudiert, nachdem die Namen durchs Zelt gerufen werden: »Der Erwin«, »Der Ludwig«, »Der Xaver« – Jubel für den Ochsen und rauf auf den Spieß.

Die Regeln des Oktoberfest-Reigens verstehen alle, egal ob sie aus Niederbayern oder North Columbia kommen. Wer den Text der Schlager nicht kennt, klatscht im Takt. Zwei Wochen im Jahr wird die ganze Welt bayerisch. Dabei ist die Wiesn trotz des vielen Besuchs aus dem Ausland ein sehr lokales Fest: 71 Prozent der Besucher kommen aus dem Freistaat, 58 Prozent direkt aus München. Was Volksparteien heute nicht mehr schaffen, schafft dieses Volksfest: Egal ob jung oder alt, egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts, auf der Wiesn ver- brüdern sich alle für die gleiche Sache.

Manchmal wirkt es, als wäre das Einzige, was sich auf dem Oktoberfest ändert, der Bierpreis. Der hat sich seit 2002 fast verdoppelt und klettert in diesem Jahr auf bis zu 11,80 Euro. Aber auch der Aufschrei darüber ist in München Teil des jährlichen Zeremoniells. Am Ende zahlen’s doch alle.

Schon vor 20 Jahren kannten bei einer weltweiten Umfrage 91 Prozent der Menschen den Begriff »Oktoberfest«. Mehr als 2000 Ableger gibt es außerhalb von Deutschland. Doch wo Bedienungen in falscher Tracht das Bier in Plastikbechern und Currywurst statt Hendl servieren, fehlt etwas.

Wer auf der Wiesn einen Platz im Zelt haben will, muss früh am Biertisch sitzen oder wissen, wie man sich bei Überfüllung noch reinschleicht. Reservieren ist so gut wie unmöglich, wenn man nicht zur Münchner Schickeria gehört. Macht nichts, die Stimmung in den reservierten »Boxen« am Rand ist eh nie so gut wie im Epizentrum des Zelts, um die Kapelle rum. Ab 22.30 Uhr schenken die Wirte kein Bier mehr aus, eine Stunde später kehren die Bedienungen die letzten Gäste vor die Tür. Nach 16 Tagen ist immer am ersten Sonntag im Oktober Zapfenstreich.

Vielleicht sind es gerade diese strengen Regularien, die das Fest limitieren und es so begehrenswert machen. Trotz des großen Erfolgs verlängert oder vergrößert die Stadt das Oktoberfest nicht. Sie vergibt es weder an Sponsoren, noch bewirbt sie es. Die Wiesn finanziert sich selbst – allerdings auch nur das. Gabriele Weishäupl war 27 Jahre lang Tourismus- und Wiesn-Chefin. In ihrem Buch I bin der Max schreibt sie, dass sich das Revisionsamt durchaus darüber beschwert habe, dass die Stadt an dem »Milliardenunternehmen Wiesn« kaum mitverdiene. Sie habe vorgeschlagen, elektronische Kassen einzuführen, weil die Ausschankzahlen der Wirte nie mit den Lieferzahlen der Brauereien zusammenpassten – und sich damit unter den Wirten keine Freunde gemacht. Das Wirtschaftsreferat knickte ein, und alles blieb, wie es war. Das Bewahrende, sagt Weishäupl, sei Teil des Zaubers.

Ich wohne mittlerweile nicht mehr in München. Zur Wiesn fahre ich aber, wann immer es geht. Vor zwei Jahren stand ich das letzte Mal auf der Bierbank. Schwanger mit einer alkoholfreien Maß in der Hand. Die Wiesn ist für mich ein Stück Zuhause, ja vielleicht sogar ein Stück Heimat. Wenn Heimat ein Ort ist, an dem man sich wohlfühlt und akzeptiert. Wenn Heimat das Gefühl ist, man wäre nie weg gewesen und dass auch in einer unübersichtlichen Welt manches bleibt, wie es ist.

Wer einmal Arm in Arm mit Fremden und Freunden auf der Bank stand und am letzten Wiesn-Abend mit Wunderkerzen im abgedunkelten Zelt gesungen und geschunkelt hat, spürt es: Wir sind eine große Familie, verbunden durch die Ahnung, dass morgen alles anders sein wird. Deshalb noch mal alle zusammen: »An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit.«