Im Iran lebt die größte jüdische Exilgemeinde der islamischen Welt. Ihre Religion dürfen die Mitglieder offen praktizieren. Doch wer Kontakt zu den Glaubensbrüdern in Israel sucht, riskiert sein Leben.
von Eva Lindner, Die Welt , 31. März 2017
Gil, schwarze Haare, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schlängelt sich durch die Basarstraßen der Großstadt Schiras, etwa 700 Kilometer südlich von Teheran. Unauffällig wirkt der schlanke, junge Mann, ein bisschen wie der Schatten seines Selbst. Es ist Vormittag und voll in den engen Gassen. Die Basaris rufen die Preise für ihre Gewürze, ihr Brot und ihre Stoffe in die gewölbten Gänge, Frauen in schwarzen Tschadors kämpfen sich durch die Menge, es riecht nach Zimt und gegrilltem Fleisch. Ein Mann in Gils Alter kommt auf ihn zu, „Schalom, hakol beseder?“, er gibt Gil die Hand zum Gruß. „Schalom, ja, alles klar, und bei dir?“, erwidert Gil ebenfalls auf Hebräisch. Niemand der Passanten scheint sich zu wundern, dass die beiden die Sprache des Landes sprechen, dem der Iran schon häufig mit der Auslöschung gedroht hat.
Seit mehr als 2500 Jahren leben Juden in Persien. Gil ist einer von etwa 10.000, die heute noch im Iran wohnen. Es gibt keine offizielle Zahl, die Gemeinschaft gibt an, dass es bis zu 25.000 sein könnten. In jedem Fall ist es die größte jüdische Gemeinde der islamischen Welt. Der Westen hat bis heute Irans polternden ExPräsidenten Ahmadinedschad im Ohr, der Israel mehrmals mit Zerstörung drohte und den Holocaust als „Mythos“ bezeichnete. Bereits Ajatollah Khomeni erklärte 1979 bei seiner Machtergreifung nach der Islamischen Revolution Israels Vernichtung zum Staatsziel. Doch ebenfalls erließ er ein Dekret, dass iranische Juden nicht diskriminiert werden dürften.
Der Feind sind also nicht die Juden, die Feinde sind der israelische Staat und die Zionisten. Iran erlaubt jüdische Krankenhäuser, Schulen und koschere Restaurants. In den Synagogen, die anders als in Deutschland nicht bewacht werden müssen, darf die Gemeinde ihren Glauben praktizieren. Doch gleichberechtigt mit ihren schiitischen Nachbarn sind die iranischen Juden deshalb noch lange nicht. Hohe Posten in Politik und Verwaltung bleiben ihnen verwehrt. Und wer Kontakt zu den Glaubensbrüdern in Israel sucht, riskiert sein Leben. Das musste auch Gil erfahren.
Gil verabschiedet sich von seinem Freund auf dem Markt, er muss zur Arbeit. Am Rande des Basars in einer Hauptstraße verkauft er in einem kleinen Stand Glühlampen, Handyersatzteile, Ladegeräte. Nach seinem Ingenieursstudium hat der 21-Jährige keinen Job gefunden. „Ich habe als Jude nur einen Platz an einer schlechten Uni bekommen“, sagt Gil und hebt die Schultern. Ob er tatsächlich aufgrund seiner Religion diskriminiert wurde, ist schwer nachprüfbar. Klar ist jedoch, einfach haben es die Minderheiten in Iran nicht. Hebräisch-Unterricht ist verboten. Gil und seine Freunde sprechen deshalb nur ein paar Worte, nutzen Hebräisch wie einen Slang zur Wiedererkennung, im Alltag sprechen sie Farsi. Aus Angst vor Verfolgung will Gil weder sein Foto noch seinen richtigen Namen in der Zeitung lesen. Seine Familie und Freunde nennen ihn bei seinem hebräischen Namen, in seinem Pass steht ein anderer Name, in Farsi.
98 Prozent der Iraner sind Muslime. Die übrigen zwei Prozent sind Zoroastrier, Christen und Juden, sie alle sind im Parlament vertreten. Einfluss haben die Abgeordneten der Minderheiten kaum, sie müssen die islamischen Gesetze und Regeln befolgen. Doch die Vielfalt passt in das Image, das der Iran gern von sich hätte: Eine gemäßigte schiitische Regionalmacht in einem radikalisierten sunnitischen Umfeld. Präsident Hassan Ruhani twitterte, kaum kam er 2013 ins Amt, Gratulationen zum jüdischen Neujahrsfest Rosch-Haschanah in die Welt.
Freitagnachmittag kurz vor Sonnenuntergang schließt Gil seinen Laden und macht sich auf den Weg zur Synagoge. „Endlich: Shop zu, Augen zu“, sagt Gil und lacht, es ist Sabbat. Die nächsten 24 Stunden wird er sein Handy ausschalten, mit seiner Familie zu Hause auf dem Perserteppich essen und in der Thora lesen. Abseits des Stadtzentrums mit seinen funkelnden Moscheen, in einer staubigen Nebenstraße liegt das Religionsviertel. Hinter einem hohen Tor schaut der Glockenturm einer Kirche hervor, der Feuertempel der Zoroastrier steht auf einer Brache hinter einer Baustelle. Schräg gegenüber hinter hohen Mauern, ohne Hinweis auf ein religiöses Zentrum, betreten ein paar Männer ein unscheinbares Betonhaus, die Beit Knesset, den Gebetsraum. Keiner trägt Kippa oder Schläfenlocken, ein Davidstern an den Fenstergittern ist das einzige, erkennbare jüdische Symbol.
Als Israel 1948 gegründet wurde, lebten noch etwa 100.000 Juden im Iran. Nach der Revolution verschärfte sich die Situation für die Minderheiten. Viele Säkulare zogen in die USA, so auch die Eltern von Gils Vater. Sie leben wie viele Exil-Iraner in Los Angeles, das Gil und seine Freunde deshalb „Teherangeles“ nennen. Fromme, arme Juden zogen nach der Revolution vor allem nach Israel, so wie die Familie von Gils Mutter. Es ist zwei Jahre her, als Gil beschloss, seine Tanten im Heiligen Land zu besuchen. „Meine Mutter hat drei Nächte nur geweint, sie wollte mich unbedingt aufhalten“, sagt Gil. „Aber ich liebe es, zu reisen, nur wir Iraner dürfen ja kaum irgendwohin.“ Und schon gar nicht nach Israel. Die Schergen des Regimes machen unaufhörlich Jagd auf mögliche Spione des Erzfeinds. „Wenn sie mich erwischt hätten, wäre ich verschleppt worden“, sagt Gil. „Oder sie hätten mich gleich getötet.“
Doch Gil war nicht aufzuhalten. Über die Türkei flog er nach Israel, weil in seinem Pass „jüdisch“ steht, ließen die Israelis ihn einreisen. Israels Gründung basiert auf der Idee, ein Zufluchtsort für alle Juden auf der Welt zu sein. Gil besuchte Tel Aviv und Jerusalem, lernte seine ihm fast fremde Familie kennen. „Ich habe es geliebt, Israel ist ein freies Land“, sagt er.
„Frei sein“ ist für junge, liberale Iraner das erstrebenswerteste Attribut. Denn in ihrer Heimat sind sie alles andere als frei. Gil ist 21 Jahre alt, er darf weder tanzen gehen, noch Alkohol trinken, er darf alleine keine Mädchen treffen und draußen keinen Sport treiben. Fast alles, was jungen Leuten Spaß macht, ist verboten, es gibt kaum Cafés, keine Bars, keine Clubs. „Im Iran darf man nicht singen, nicht tanzen und nicht lachen“, sagt Gil. Und in der Tat: Wer durch den Iran reist, dem fällt die Ernsthaftigkeit der Menschen auf der Straße auf. Meist dunkel gekleidet oder in schwarze Tücher gehüllt, hasten die Menschen durch die Straße. Frei sein können sie nur zu Hause. Hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen.
Doch wo Grenzen eng gesteckt werden, reizt die Jugend sie erst recht aus. Am Samstagabend, als die Sonne untergegangen ist und der Sabbat vorbei ist, schaltet Gil sein Handy an und verabredet sich mit Freunden in einem Café am Stadtrand. Sein bester Freund Mohammed, ein Muslim, betreibt es. „Unsere Religionen spielen doch keine Rolle“, sagt Gil, „wir sind alle Menschen.“ Hier rauchen die jungen Leute Wasserpfeife und spielen Billard, die Mädchen tragen die Kopftücher weit hinten im Nacken, ihr Haaransatz guckt hervor. Gil trägt ein Tablett mit Teetassen an den Tisch und schenkt ein. Seine Freunde nippen an den Tassen und fangen an zu lachen. Statt eines Gewürztees hat Gil ihnen selbst gemachten Wein aufgetischt. Dafür könnte er ins Gefängnis kommen. Die rote Flüssigkeit schmeckt süß und hochprozentig, die Mädchen kichern.
Gegen ein Uhr nachts steigt Gil in sein Auto und macht sich auf den Heimweg. Ob er lieber woanders leben würde als im Iran? „Momentan nicht“, sagt der junge Mann mit der schwarzen Kleidung und den schwarzen Haaren. „Ich habe hier alles, was ich brauche, einen Job, Freunde, meine Familie.“ Nur die Freiheit, die fehle natürlich. Aber manchmal, sagt er, nimmt er sie sich trotzdem, auch wenn es gefährlich ist. Dann winkt er zum Abschied und ruft auf Hebräisch „laila tov“ – „Gute Nacht.“
Foto: Eva Lindner
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