Die Stille nach dem Schluss
Dummy Magazin Eva Lindner Suizid Trauer Angehörige Umgang

Ein Mensch, der sich selbst tötet, zerstört auch das Leben seiner Angehörigen und Freunde. Eva Lindner schreibt darüber, wie man damit klarkommt (oder auch nicht) 

von Eva Lindner, Dummy Magazin, 15. März 2020

Es ist Dienstag, der 14. Januar 2014, 16.51 Uhr, als der Tod in mein Leben tritt. 

Berlin, Bahnhof Warschauerstraße, ich steige aus der S-Bahn, als ich zwei verpasste Anrufe und eine SMS von Matthias*, dem besten Freund meines Ex-Freundes, auf dem Telefon sehe. Er ruft nur an, wenn es Probleme gibt, wenn er Tom irgendwo abholen muss, wenn Tom außer sich vor seiner Tür steht, wenn Matthias ihn sucht. Als ich Matthias’ Stimme höre, ahne ich bereits, was passiert ist. Das, was nicht passieren durfte, wovor ich immer Angst hatte. 

„Fahr zu einer Freundin, setz dich hin und ruf mich dann zurück.“

„Nein, ich will es jetzt wissen. Lebt Tom noch?“

Ich habe das Gefühl, mein Kopf krampft sich zusammen. Ein Teil von mir verlässt meinen Körper, blickt von außen auf mich, sieht mich, wie ich da sitze. Den Kopf auf die Hand gestützt, unfähig zu weinen, eine Bank am S-Bahn-Gleis, Menschen gehen vorbei. 

„Wann?“

„Gestern.“

„Wo?“

„Ein Hochhaus, mitten in Berlin.“

„Wie?“

„Gesprungen.“ 

„Fahr zu einer Freundin, bleib jetzt nicht allein.“ 

S-Bahn, einsteigen, aussteigen, laufen, atmen, laufen, atmen. 

Im Treppenhaus falle ich auf die Stufen, lege anschließend meinen Kopf in den Schoß meiner Freundin. 

Schreie, weine. Weine, weine, weine. 

Warum, Tom? Warum Tom?

Abends sitzen wir gemeinsam bei Matthias. Freunde. Wir halten uns an den Händen und in den Armen. Wie Überlebende krallen wir uns aneinander fest, der Tod ist unter uns. Wir versuchen zu rekonstruieren: Wer hat Tom als letztes gesehen? Wen hat er als letztes angerufen? Hat er etwas angedeutet? Wir wollen das Unverständliche verstehen. Er wollte nächste Woche eine Bekannte auf dem Land besuchen. Keiner hat es kommen sehen. 

Nachts sehe ich ihn im Traum, wie er da oben steht. Anlauf nimmt. Über das Geländer auf der Besucherterrasse des Hochhauses springt. Stürzt, im tiefen Fall. Ich schrecke hoch. Wie unermesslich muss sein Leid gewesen sein, dass es seinen Lebenswillen unterdrückt hat? Wie wenig geliebt muss er sich gefühlt haben? Wie einsam muss er gewesen sein? Sein Schmerz wird zu meinem Schmerz. Ich krümme mich im Bett. Der Sprung aus der Welt war für ihn das Ende der Qualen. Für mich war es der Anfang. 

Am nächsten Morgen kann ich nicht aufstehen. Der Tag soll nicht beginnen, soll mich nicht mitziehen in seinen Lauf, es soll nicht weitergehen. Ich will, dass die Zeit stehen bleibt. Früher hat man die Uhren in den Häusern Verstorbener angehalten. Was für ein schönes Ritual. Toms Lebenszeit ist stehengeblieben, meine läuft weiter. Jede Sekunde, die vergeht, trennt uns ein Stück weiter voneinander. Tick – Tack – Tick – Tack. Leben – Tod – Leben – Tod. Ich tue, woran er nicht mehr glaubte. Tom wird für immer 29 Jahre alt bleiben. 

Als ich mich hochrappele, fühlt es sich an, als ob ich gleich wieder zusammenbrechen werde. Will es förmlich, alles Haltende niederreißen, alles Kontrollierte wegstoßen, mich fallen lassen, auf den Boden sinken, wegdösen. 

Ich will nicht, dass er tot ist. 

Ich will nicht, dass er tot ist. 

Ich will nicht, dass er tot ist.

Am nächsten Tag gehe ich mit Freunden zu dem Hochhaus, auf dem Tom seine letzten Atemzüge gemacht hat. Ihm noch einmal nahe sein. Da sein, wo er war. Wir fahren nach oben und schauen die elf Stockwerke hinunter auf den Boden. Hinauf in den Himmel. Wie ist das, sekundenlang zu fliegen und zu wissen, alles ist vorbei, wenn man ankommt? Ob er leiden musste beim Aufprall? Menschen, die einen Suizidversuch überlebt haben, berichten, dass sie kein Schmerzempfinden hatten. Ob sie nichts gespürt haben oder sich lediglich an nichts erinnern können, ist nicht erwiesen. 

„Wie hätte die Alternative ausgesehen?“, fragt ein Freund, „Von einer Klinik zur nächsten. Zwangseinweisungen, Medikamente, vernebelter Verstand, um das Leben ertragen zu können.“ 

Depressionen, Schizophrenie, Psychosen heißen die Diagnosen, die Ärzte Tom gegeben haben, Namen, die an ihm hafteten wie Sekundenkleber, den man nur schwer wieder abbekommt. Diagnosen, die ihn stigmatisierten. Ihn zu einem Kranken machten, den die Gesunden meiden. Zu einem Kaputten, in einer Gesellschaft, in der der Wert des Einzelnen danach bemessen wird, wie gut er funktioniert. 

Die Menschen ohne Diagnose nennen die anderen „verrückt“. Sie selbst sind der Norm entsprechend. Depressionen, Schizophrenie, Psychosen – medizinische Begriffe für einen Menschen, der sich verändert hat. Der die Bilder in seinem Kopf nicht mehr mit seiner Umgebung übereinbekommt. Der nicht therapiert, sondern geliebt werden will. Dem die Angst das Herz zerfrisst. Für ihn gab es kein richtiges Leben im falschen, da hatte Adorno ganz recht.

Fast sieben Jahre lang waren Tom und ich ein Paar. Wir lernten uns in den ersten Semestern an der Uni kennen. Wir wollten wie alle jungen Paare für immer zusammen sein, gemeinsam der Welt die Stirn bieten, vielleicht irgendwann Kinder haben. Er wollte Filme drehen, die Welt verändern. Doch die Welt wollte sich nicht von ihm verändern lassen. Neben mir war das Gras, das er rauchte, sein liebster Begleiter. Anfangs nur ab und zu, nach der Absage einer Filmhochschule immer häufiger. Nach meiner ersten Magisterprüfung holten mich Freunde von der Uni ab. 

„Wir mussten Tom heute Nacht in die Klinik bringen.“ 

Er irrte wirr durch die Stadt. Psychose. Ich verschob meine restlichen Prüfungen, verbrachte die Tage bei ihm im Krankenhaus. Sie spritzen ihm Neuroleptika.

 „Psychose, was soll das sein?“, fragt Tom. „Ich hatte die ganze Zeit alles unter Kontrolle.“ 

Als ich meinen Abschluss nicht weiter hinauszögern kann, sitze ich in der mündlichen Prüfung und weiß irgendwann nicht mehr, worüber wir überhaupt reden. Blackout. Nichts geht mehr. Mein Dozent ist gnädig, ich bestehe trotzdem. 

Als es Tom bessergeht, ziehe ich für meinen ersten Job nach Berlin. Ein knappes Jahr später kommt er nach, in unsere erste gemeinsame Wohnung. Er hat sich verändert, ist empathielos, unruhig, unsicher. Eine Therapie will er nicht machen, „ich brauch das nicht“, sagt er, „ich bin nicht krank.“ Wir streiten, bevor ich morgens zur Arbeit gehe und wenn ich abends nach Hause komme. Das Gras bestimmt wieder seinen Lebensrhythmus. 

Eines Tages stehen wir gemeinsam auf dem Dach, auf dem er Jahre später seine letzten Minuten verbringen wird. Wir lehnten uns gegen das Geländer. Sehen hinauf in den Himmel. Und die elf Stockwerke hinunter. 

„Weißt du noch, als es mir so schlecht ging? Als ich aus der Klinik kam? Da stand ich auch hier oben und habe darüber nachgedacht, runter zu springen“

„Wirklich?“

„Ja“

„Aber jetzt er doch weg dieser Gedanke, oder?“ 

„Ja, keine Angst. Jetzt ist er weg.“

Er hat sich fürs Leben entschieden. Dieses Mal. 

Ein knappes Jahr später stehen wir vor den Trümmern unserer Beziehung. 

Nachdem ich ein Viertel meines Lebens mit ihm geteilt habe, mit ihm gelacht, gelitten und geliebt habe, würde ich den Rest meines Lebens ohne ihn verbringen müssen. Ohne Tom.

Auf der Trauerfeier nimmt Toms Mutter mich in den Arm, sagt, „dich trifft keine Schuld. Du warst die Frau seines Lebens.“ 

Sein Körper hat den Sturz aus dem elften Stock wie durch ein Wunder äußerlich unbeschadet überstanden. Wir dürfen uns am offenen Sarg von ihm verabschieden. Ich will allein zu ihm gehen. Als ich die Türe öffne, ist es still. Kerzen brennen, das Licht ist gedimmt, ein paar Stuhlreihen stehen vor dem Sarg. Als ich ihn darin sehe, krampft sich alles in mir zusammen, ich schreie auf. Mein erster Impuls ist, wegzulaufen. Aber ich will das schaffen, halte mich an der Wand fest und taste mich nach vorn zu ihm. Die Anwesenheit des Todes zerrt an mir, ich weine laut, meine Stimme versichert mir meine Lebendigkeit. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor ihm auf einem Stuhl sitze und mit ihm rede. 

Ich will seine Hand berühren, traue mich aber nicht. Ich habe Angst, vor dem Gefühl der toten Haut. Er sieht blass aus, ausgezerrt, erlöst. Irgendwann atme ich tief. Er, wie er da so liegt und nichts mehr tut, und ihn nichts mehr peinigt, beruhigt mich. Wir haben früher ständig diskutiert, jetzt gibt es nichts mehr zu debattieren. Er hat eine Entscheidung getroffen, ich muss sie akzeptieren.

Toms letztes Lebenszeichen an mich war eine SMS zu meinem Geburtstag, drei Monate vor seinem Tod. Er hat mir gratuliert, ich habe nie geantwortet. Warum nicht? Warum habe ich mich nicht mehr bedankt? Der Gedanke nagt in mir, wie ein Wurm an einem Apfel, stetig, gleichförmig, gewillt, ihn zu durchdringen und von innen zu zersetzen.

Ein paar Monate nach unserer Trennung ging es Tom schlechter. Seine neuen Mitbewohner melden sich bei mir. Einmal ruft die Polizei an, sie hätten ihn aufgesammelt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er wolle von mir abgeholt werden. 

Wie soll man sich entlieben, wenn der andere ständig Unterstützung einfordert? 

Kurz darauf ist er wieder in der Klinik, zweite Psychose. 

Er ruft mich wieder regelmäßig an. Er wolle mir nur sagen, was ich für eine tolle Freundin war und sich bedanken, für alles, was ich für ihn getan habe. Es klingt wie ein Abschied. Ich bin alarmiert, telefoniere herum, schicke Freunde zu ihm. Nein, er wird sich nichts antun, versichern sie mir. Er schafft das schon. Heute weiß ich, es war ein Abschied.  

Würde er noch leben, wenn ich mich nicht von ihm getrennt hätte? Was für ein Paar wären wir heute? Hätte er sich trotzdem das Leben genommen?

Vielleicht hätte es etwas geändert, vielleicht hätte eine SMS von mir ihn davon abgehalten, sich zu töten. Vielleicht wäre es ein Zeichen gewesen, dass wir irgendwann neu aufeinander zugehen können. Eine freundschaftliche Beziehung aufbauen. 

„Das ist doch anmaßend“, sagt ein Freund. „Glaubst du wirklich, du hättest ihn mit einer SMS davon abhalten können? Wie groß, schätzt du, war dein Einfluss auf ihn?“ Schuldfragen sind selbstsüchtige Fragen. In seine Entscheidung war ich nicht eingebunden. Aber die Auswirkungen treffen mich tief. Suizid bedeutet Kontrollverlust. 

Der neunte Tag nach Toms Tod ist der erste, an dem ich nicht weine. Sofort überfällt mich das schlechte Gewissen. Vergesse ich ihn, wenn der Schmerz nachlässt? Tom ist nicht mehr lebendig, aber meine Trauer ist es. Ich will sie am Leben halten, dann ist da wenigstens noch irgendetwas. Wenn sie vergeht, was dann? Die Trauer sitzt jetzt tief, wie eine Ölquelle im Boden. Bereit zu sprudeln, wenn sie angebohrt wird. Doch da bohrt niemand. Die Selbsttötung meines Ex-Freundes ist innerhalb kürzester Zeit zum Tabu geworden, über das nicht mehr gesprochen wird. 

Nach ein paar Wochen tun alle so, als wüssten sie von nichts. Lediglich mit den Freunden, die auch um Tom trauern, kann ich zwanglos sprechen. Alle anderen sagen lieber nichts. Als ich meine Eltern besuche, fällt kein Wort, Bekannte sprechen mich nicht darauf an. Hätte ich eine Operation gehabt oder einen Unfall, würden sich alle danach erkundigen, wie es mir geht. Nimmt sich jemand das Leben, müssen die Übriggebliebenen ihre Wunden selbst verarzten.

Meine Trauer staut sich in mir an, wie Wasser, das kein Ventil findet. Nach einer Weile drohe ich zu platzen. Fragen schießen aus mir heraus: 

 „Warum fragt ihr mich nie, wie es mir geht? Warum tut ihr so, als wäre nichts gewesen?“

Erstaunte Blicke. Überforderte Gesichter. 

„Wir wollen dich nicht traurig machen, keine Wunden aufreißen. “

„Traurig macht mich Toms Tod, nicht eure Fragen. Ihr würdet doch nur ansprechen, was mich sowieso den ganzen Tag beschäftigt.“ 

Der Frontalangriff hilft nicht. Die Angst meiner Mitmenschen, etwas Falsches zu sagen, ist zu groß. Sie sind unsicher, wollen keine falsche Frage im falschen Augenblick stellen, also stellen sie lieber gar keine. Ihre Unsicherheit wird zu meiner Einsamkeit.

Erwarte ich zu viel? Warum schaffe ich es nicht, selbst Hilfe einzufordern oder angebotene Hilfe anzunehmen. „Du kannst immer mit mir sprechen“, schreibt eine Freundin. Mich anrufen kann auch sie nicht. 

Was gibt es schon zu sagen? Wie soll ich über ihn reden? In der Vergangenheit? Ich will ihn im Präsens halten, um ihn wenigstens verbal noch nicht zu verlieren.  

Es fällt mir genauso schwer, Toms Suizid anzusprechen wie meinen Freunden. Denen, die es noch nicht wissen, stottere ich etwas vor. Obwohl es mein Job ist, Nachrichten zu übermitteln, weiß ich nicht, wie man diese formulieren kann. Für eine falsche Nachricht gibt es keine richtigen Worte. „Tom hat sich umgebracht“, klingt so nach Skalpell, Pulsadern, Strick, Pistole, Verbrechen. Obwohl auch der Sprung in den Tod nicht weniger als eine Gewalttat gegen sich selbst war, sage ich lieber, „er hat sich das Leben genommen“. Das klingt so selbstbestimmt. Nur, wie frei ist jemand, der den sogenannten Freitod wählt, weil ihn seine Ängste und Verzweiflung bis an die Grenze des Erträglichen schmerzen. 

Es entstehen lange Pausen, dann folgt meist ein „Oh, mein Gott“. Ich versuche die Leere zu füllen, will dem anderen helfen, dabei brauche ich selbst Hilfe. Ich lege einen falschen Optimismus an den Tag, beende Gespräche mit „naja“, und einem aufgesetzten Lächeln, um mein Gegenüber aufzubauen und aus der miesen Stimmung zu holen. Unsicherheit, Mutlosigkeit, falsche Rücksichtnahme auf beiden Seiten. So schafft man ein Tabu.

In den Monaten darauf meldet sich kaum jemand bei mir. Alle tun so, als hätte es Tom nie gegeben, wir schließen die Lücke. Es wirkt wie ein Versuch, Geschehenes ungeschehen zu machen. Was nicht gesagt wird, gibt es auch nicht. 

Auf der Seite des statistischen Bundesamts lese ich seelenlose Zahlen wie die, wonach sich jährlich mehr als 10.000 Menschen in Deutschland das Leben nehmen. Das sind mehr als doppelt so viele wie durch Verkehrsunfälle sterben. Alle fünf Minuten versucht in Deutschland jemand, sich umzubringen. Alle 52 Minuten gelingt es. Selbsttötung ist kein Randphänomen, doch wir behandeln sie so. Geht man davon aus, dass die, denen ihr Vorhaben gelingt, bis zu zwanzig Familienmitglieder, Partner, enge Freunde, nahestehende Arbeitskollegen haben, sind in Deutschland jährlich 200.000 Menschen von Suizid betroffen. Zweihunderttausend traurige, verzweifelte, einsame Menschen, die keine Stimme haben, die sich in der Öffentlichkeit nicht wiederfinden.

Wenig liest man von den Schreien der Gefährdeten nach Zuwendung. Wie sehr hat sich Tom nach Aufmerksamkeit gesehnt? Wollte er mit seinem Sprung die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen, die ihn schon lange gemieden haben, denen er zu anstrengend wurde mit seinem konfusen Gedanken, mit seinen Ideen, die so gar nicht in eine Schublade passen wollten? Ein letztes Mal im Mittelpunkt stehen, ein letztes Mal alle um sich versammeln. Oder vielleicht – darf man das überhaupt denken? – sogar Rache nehmen. In seinem Rucksack, den die Polizei bei ihm fand, steckte seine Bewerbung für die Filmhochschule, die ihn Jahre vorher ablehnte. Wie eine letzte Nachricht an die, die ihn verkanten. 

Trauerbegleiter sagen, Suizidopfer treffen ihre Entscheidung ohne an ihre Angehörigen zu denken. Zu groß sind das eigene Leid und der Schmerz, die unfähig zur Empathie machen. Wer könnte springen, wenn er an die denkt, die ihn unten finden? Wer könnte sich auf Gleise legen, wenn er nur einen Gedanken an den Zugführer verschwenden würde? Wer könnte sich im Keller aufhängen, wenn er seine Familie im Kopf hätte, die mit diesem Anblick weiterleben muss? „Warum hast du uns das angetan?“ wäre demnach eine unzulässige Frage, eine narzisstische Frage. Er hat die Entscheidung nicht gegen uns, sondern für sich getroffen. Was für uns keinen Sinn ergibt, war für ihn das einzig Sinnvolle. 

Ein halbes Jahr nach Toms Suizid meine ich nicht mehr ständig, ihn auf der Straße zu sehen, verwechsle nicht mehr aus der Entfernung wildfremde, junge Männer mit ihm. Die absurde Hoffnung, er könnte vielleicht irgendwo wiederauftauchen, verkümmert, täglich ein bisschen mehr. Der Tod scheint weiter zu ziehen, aber er hat seinen besten Kumpel bei mir gelassen, der mich ab jetzt fest im Griff hat: die Angst. 

Erzählt mir meine Mutter, dass sie einen Ausflug mit dem Auto machen will, sehe ich Unfallbilder vor mir. Fliegt eine Freundin, habe ich Angst, das Flugzeug könnte abstürzen. Fahre ich mit dem Fahrrad, lenke ich schreckhaft zur Seite, wenn ein Motorrad zu dicht an mir vorbeifährt. 

Die Angst, noch ein Leben zu verlieren, zerrt an mir. Der Tod ist nicht weitergezogen. Er ist lediglich umgezogen. In mein Unterbewusstsein.

Nachts schrecke ich aus Albträumen hoch. Die Bilder sind realistisch wie ein 3D. Mit meiner Freundin verteidige ich das Haus meiner Eltern gegen Eindringlinge. Mit abgebrochenen Bierflaschen schlitzen wir ihnen die Halsschlagadern auf. Ein anderes Mal bin ich auf Bahngleisen festgebunden, ein Zug donnert auf mich zu. Ich kann mich nicht mehr rechtzeitig befreien, der Zug reißt mich in Fetzen. 

Der Tod, er ist nicht zu bändigen. Wie ein tollwütiger Wolf hat er sich in mein Leben geschlichen und mich aus dem Hinterhalt angegriffen. Ich liege verletzt am Boden, und lecke meine Wunden. Wenn Tiere Angst haben, setzt sich einer von drei Instinkten durch: Weglaufen, totstellen oder kämpfen. Ich mache es wie die Fluchttiere und renne davon, versuche die Albträume zu vergessen und die Verlustängste zu verdrängen. Ich meide den Platz, auf dem Tom sich in den Tod gestürzt hat und alle Orte, die ich mit ihm verbinde. 

Ich lasse mir „bin gut angekommen“-Nachrichten von allen schicken, die mich verlassen, suche nach übriggebliebenen Exfreunden auf Facebook. 

„Lange nichts gehört, wollte nur mal hören, ob es dir gut geht.“

Freunde fragen, ob ich schon mal an eine Therapie gedacht habe. Nein, habe ich nicht. Jahrelang verzweifelte ich daran, dass Tom keine Hilfe annehmen wollte. Nun bin ich  genauso. 

Heute weiß ich, Angst und Albträume sind ein normaler Teil des Trauerprozesses. Wir haben nur verlernt, was Trauer bedeutet. Dass sie nicht zwingend nach ein paar Wochen oder einem „Trauerjahr“ vorbei ist. Weil sie sich nun einmal nicht an den Kalender hält. Wir haben unsere Trauerkultur verloren, weil wir den Tod nicht in unser Leben lassen wollen. Ich lese in Büchern über die Trauer in anderen Teilen der Erde. In Griechenland werden Klageweiber bestellt, damit der Tote besonders laut und emotional verabschiedet werden kann. In Indien kommen alle, die von dem Verlust einer Familie hören, zusammen, setzen sich in großen Gruppen um die Angehörigen und weinen miteinander. In Israel kümmert man sich einen Monat lang gemeinsam um das Haus der Angehörigen, jeder kann dort seine Trauer ausleben, es wird gekocht, geweint, erinnert. In Ghana und Mexiko wird bei jedem Tod das Leben gefeiert. Unsere Gesellschaft dagegen verwaltet nach spätestens einer Woche ihre Toten, von den Angehörigen wird Selbstbeherrschung und Zuversicht erwartet. 

Angstzustände treten vor allem bei Trauernden auf, die eine komplizierte Beziehung zu dem Toten hatten, heißt es. Als seine Ex-Freundin neige ich nicht zur Idealisierung. Den Toten „in guter Erinnerung zu behalten“, wie man das so tun soll, fällt mir nicht immer leicht, die Dramen unserer Beziehung sehe ich noch immer lebhaft vor mir. Manchmal versuche ich, mich nur an schöne Dinge zu erinnern. Ihn vor meinem inneren Auge leben zu sehen, und nicht sterben. Dann fährt er Longboard, kocht Pasta oder sitzt auf dem Fensterbrett und raucht. Dass er, mit dem ich soviel erlebt habe, nicht mehr da ist, zerreißt mir das Herz. Es ist dann wohl doch so: Mit jedem Menschen stirbt eine Welt. 

Mitte Oktober, zehn Monaten nach Toms Suizid, suche ich nach einer Selbsthilfegruppe für Hinterbliebene von Suizid-Opfern. Ein Erdgeschossraum am Rand eines Industriegebiets in Berlin. Auf zwei zusammengeschobenen Tischen stehen Gebäck und eine Box mit Taschentüchern. Zwei Frauen und die Gruppenleiterin halten sich an ihren Tassen fest. Der Geruch von Kerzenwachs liegt in der Luft. Wir werfen uns unsichere Blicke zu. 

Reihum sollen wir unsere Geschichte erzählen. Melina, etwa 50 Jahre alt, hat ihren Mann verloren. Sie hätten eine wunderbare Beziehung geführt, von seinen Depressionen hat sie nichts gewusst. Von eben auf jetzt habe er sie zurückgelassen. Dabei seien sie doch jede Nacht Hand in Hand eingeschlafen. „Warum habe ich nichts gemerkt? Warum hat er nicht mit mir darüber gesprochen?“, fragt uns Melina weinend. „Was soll ich jetzt nur machen?“ Ich zupfe ein Taschentuch nach dem nächsten aus der Box. 

Dann ist Lena dran. Lena ist 29 und hat ihren Vater verloren. Auch in ihrer Familie wusste keiner, wie verzweifelt er war. Ihre kleine Schwester hat ihn im Keller gefunden, da war sie zwölf. Er baumelte von der Decke. 

Als ich an die Reihe komme, bin ich bereits fix und fertig. Die Schicksale der beiden gehen mir so nah. Hier haben Frauen ihre große Liebe verloren, eine Tochter musste ohne ihren Vater aufwachsen. Und ich? Ich habe meinen Ex-Freund verloren, mit dem ich Schluss gemacht habe. Meine Trauer kommt mir minderwertig vor. Das muss sie nicht, sagt die Gruppenleiterin. Trauer sollte man nicht werten. 

Also erzähle ich davon, wie Tom die Welt abhandengekommen ist. Wie er aus ihr herausgesprungen ist. Wie ich mich danach einsamer gefühlt habe, als nach unserer Trennung. Ich erzähle von der Sprachlosigkeit und den Ängsten. Es schmerzt mich, dass ich ihn nie mehr treffen und fragen kann, „Hey, wie geht`s dir, was machst du so?“. Ich hätte mir gewünscht, dass ich nicht die letzte Liebe in seinem Leben gewesen wäre. Ich rede mit Menschen, die Toms Suizid nicht „das Thema“, sondern ihn und das, was er getan hat beim Namen nennen. In unserer Einsamkeit fühlen wir uns zweisam.

Ein paar Wochen später mache ich mich auf den Weg quer durch Deutschland zu ihm. Es ist ein trüber Herbstsamstag, die Straße ist hügelig, als plötzlich der Himmel aufreißt. Das erste Mal an diesem Tag strahlt die Sonne durch die Wolken. Als ich einen steilen Hügel hinauffahre, sticht ein enormer Lichtkegel aus dem Nebel. Für einen kurzen Augenblick kann ich nichts mehr sehen. Wenn man ein Zeichen des Schicksals sehen will, dann wäre das wohl der Moment. 

Tom, 06.09.1984 – 13.01.2014

Sein Grab rührt mich, es passt so wunderbar zu ihm. Es ist wild, unaufgeräumt, anarchisch. Alles wächst kreuz und quer, die Erde ist weder gerecht noch geharkt, es gibt keine Blümchen, dafür Büsche und kleine Bäumchen. Ein paar Herbstblätter wirbeln umher. Ich knie mich hin. Das monatelange Trauern, die Ängste und Schuldgefühle rücken in den Hintergrund, es bleibt nur noch Stille. Hier kann ich ihn ruhen lassen. Hier ist es gut.

Einmal im Jahr sagt Facebook mir, dass Tom heute Geburtstag hat und ich ihm doch alles Gute wünschen soll. Das soziale Netzwerk will eine Sterbeurkunde vorgelegt haben, damit es das Profil eines Toten löscht. Sterbeurkunde, als hätte man etwas gewonnen. Der Tod als Preis für ein Leben, das unerträglich erschien. Keiner hat je den Nachweis erbracht. Neulich war ich auf seiner Seite. In seinem letzten Eintrag, ein paar Tage vor seinem Tod, wünscht er allen ein gutes neues Jahr. Und Frieden.  

* Namen und Daten von der Redaktion geändert

Porträt: Julian Baumann

Bild: Studio Pandan

Das Honorar für den Text habe ich vollständig an den Verein Agus e.V. – Selbsthilfegruppen für Angehörige um Suizid gespendet.