Ein Lied von Blut und Frieden
Ein Lied von Blut und Frieden

Miri Aloni war eine berühmte Sängerin in Israel. Kurz bevor Jitzchak Rabin 1995 ermordet wurde, stand sie mit ihm auf der Bühne. Heute ist sie fast vergessen.

von Eva Lindner, Süddeutsche Zeitung, 30. Oktober 2015

„Lasst die Sonne aufgehen, den Morgen zu erleuchten!

Selbst das reinste Gebet wird uns nicht zurückbringen.“

Wenn Miri Aloni zur ihrem Auftritt kommt, wartet kein Publikum auf sie. Lediglich ein paar Passanten drehen sich nach ihr um, als die Frau, die Schultern nach vorne gebeugt, leicht hinkend, ihren Rollwagen über die Allenby-Straße zieht. „Starvoice“ steht auf ihrem Lautsprecher, wie eine Erinnerung an alte Zeiten. Sie bleibt auf dem Platz vor dem Carmel-Markt stehen, stellt ihren Wagen ab und atmet tief ein und aus. Ihr Parfum verströmt den Geruch von Blumenwiese in der Tel Aviver Stadtluft.

Es gab eine Zeit, da warteten Tausende, um Miri Aloni zu hören. Es war die Zeit, als Israel mit dem Frieden flirtete. Weiter träumen, weiter hoffen. Das Land war süchtig nach dem Song, der dieser Sehnsucht Ausdruck verlieh. Aloni stand auf den größten Bühnen des Landes, um den Israelis das „Lied für den Frieden“ vorzusingen.

Heute rollt sie einen blauen Teppich auf dem Asphalt aus und stellt einen Klappstuhl darauf. Fußgänger schauen auf sie herunter, werfen ein paar Schekel in ihren Gitarrenkoffer. Von ihrer Band ist nur ein CD-Spieler für die Hintergrundmusik geblieben. Sie hängt Blumenketten um den Mikrofonständer und stellt Noten und Gitarre neben sich, um ein wenig Distanz zu den Passanten zu schaffen. Aloni dreht die Musik auf, Mambo-Rhythmen heizen über den Platz. Die Sängerin wirkt wie angeknipst. Sie wippt die Schultern hin und her, klatscht zum Takt, schunkelt sich in Stimmung. Die ersten Marktbesucher bleiben stehen, als Aloni beginnt zu singen. Es geht um „Ahava“, die Liebe, „Schemesch“, die Sonne und „Schalom“, den Frieden.

Die beste Band des Landes sollte es spielen, die schönste Stimme Israels sollte es singen

Könnte Barbie altern, würde sie vielleicht aussehen wie Miri Aloni: rote Sonnenbrille, weißblondes langes Haar, Blumen auf dem blauen Jackett, Schlaghose. An dem karierten Hut glitzert eine Strass-Schnalle, an der Nase ein dünner Silberring, die Fingernägel sind rot lackiert mit Glitzer. Ihre Lippen hat sie dunkelrot nachgezogen, die Augen dramatisch umrandet, in den Stirnfalten sammeln sich Puderreste. Auf ihrem linken Unterarm trägt sie eine Tätowierung, Blumen und Herzen, Love and Peace.

Die Sängerin wurde am 25. Dezember 1949 geboren, ein Jahr nach der Staatsgründung Israels. „Es ist der Tag, an dem auch Jesus geboren wurde“, sagt sie ernst. Aloni scheut keine Vergleiche mit großen Namen. „Menschen, die an diesem Tag geboren sind, verfolgen ein Ziel, für das sie kämpfen und für das sie sich opfern. Sie gehen ihren Weg bis zum Ende, auch wenn es bitter ist.“ Aloni glaubt an das Schicksal und an Horoskope.

Sie war 17 Jahre alt, sehr blond und sehr schön, als sie Mitglied in der Nachal-Troup, der Militärband Israels, wurde. Der Staat war jung und abgeriegelt, selten ließ er internationale Künstler ins Land. Nicht einmal die Beatles durften auftreten. Die Regierung fürchtete einen „negativen Einfluss auf Israels Jugend“. Also blieben der israelischen Musikszene nur die eigenen Leute. Die Militärband war die Kaderschmiede. Sie brachte alle großen Volkssänger hervor.

Auf der Hülle der ersten Nachal-Platte sieht man die Stars in jungen Jahren, die meisten von ihnen in Uniform, dunkle Haare, dunkle Bärte. Aloni trägt einen blauen Rock und ein weißes Oberteil, das blonde Haar weht um ihre feinen Gesichtszüge. Kurz darauf wurde sie die Solistin der Band, ihre tiefe, klare Stimme war unverwechselbar.

1967 war ein junger Offizier namens Yaakov Rotblit beeindruckt von Amerikas Hippies und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Er selbst hatte im Sechs-Tage-Krieg ein Bein verloren. Inspiriert von John Lennons „Give peace a chance“ und dem Musical „Hair“ schrieb er ein Lied. Es sollte wie der Hair-Klassiker „Let the sunshine in“ mit den Worten „Lasst die Sonne aufgehen“ beginnen. Er nannte es Shir la Shalom, „Lied für den Frieden“. Die beste Band des Landes sollte es spielen, die schönste Stimme Israels sollte es singen.

Dass die Band der israelischen Streitkräfte ein Friedenslied sang, scherte kaum jemanden. Israel ist ein Land voller Widersprüche. Das „Lied für den Frieden“ wurde zur zweiten Nationalhymne. Radiosender spielten es rauf und runter, alle sangen mit, Kinder, Soldaten, orthodoxe Juden. Israel war verliebt in den Frieden. Und in Miri Aloni, die Friedenssängerin.

Im Fernsehen gab es zwei Kanäle, Aloni lief ständig. Damals in den Siebzigern sei es leicht gewesen, berühmt zu werden, sagt sie heute. Sie spielte in Musicals und Filmen, sang den Titel für die bekannteste israelische Soap und gründete Apocalypse, eine israelische Rockband. Auch als es später ruhiger um Aloni wurde, rief man sie, wann immer es darum ging, für Frieden zu werben. Frieden mit Ägypten, Frieden mit Jordanien, Frieden mit den Palästinensern. Das Lied war ihre Bestimmung und sollte zu ihrer Bürde werden.

Wenn man Aloni fragt, was sie persönlich über die Palästinenser denkt, sagt sie, dass es ihr größter Wunsch wäre, den Friedensschluss noch zu erleben. Sie bezeichnet sich als stolze, nichtreligiöse Israelin, die wie alle in ihrem Volk von der Angst zerfressen sei, ausgelöscht zu werden.

„Den, dessen Licht erloschen, der im Staub begraben liegt

wird bitteres Weinen nicht erwecken, nicht zurückbringen.“

Am 4. November 1995 strömen mehr als 100 000 Menschen zu einer Kundgebung in Tel Aviv, um Premier Jitzchak Rabins Einsatz für den Frieden mit den Palästinensern zu unterstützen. Galt der Politiker noch während der ersten Intifada als Hardliner, der den Palästinensern „Arme und Beine brechen“ wollte, vertritt er inzwischen die Meinung, dass der Volksaufstand nicht militärisch niederzuschlagen sei. Sein Name steht für die Oslo-Abkommen, die den Nahostkonflikt beenden sollen. 1994 erhält er dafür zusammen mit Außenminister Schimon Peres und dem Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, den Friedensnobelpreis. Noch im September 1995 unterschreiben Rabin und Arafat das Oslo-II-Abkommen, das dem Großteil der Palästinenser Autonomie zuspricht.

„Er hatte ein schweres Jahr hinter sich“, sagt Aloni. Die rechte Opposition protestiert heftig: Rabin setze die Sicherheit Israels aufs Spiel, verschenke das Heilige Land an den Feind. Auf Plakaten bilden sie ihn in SS-Uniform ab, mit der Kufija, dem Palästinensertuch, tragen einen Sarg mit seinem Bild durch die Straßen. Ende 1995 vergeht kein Abend, an dem die Demonstranten nicht vor seinem Haus stehen und ihren Hass zu ihm hinaufschreien. Am 4. November will die Friedensbewegung Rabin auf dem Platz der Könige Israels zeigen, dass sie hinter ihm steht.

Es ist warm an diesem Novemberabend, als Rabin gegen 20 Uhr auf die Bühne tritt, um eine kurze Rede zu halten. Drei Hubschrauber kreisen über dem Platz, Scharfschützen sind auf den umliegenden Hausdächern positioniert. „Diese Regierung“, sagt der 73-jährige Premier, „hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben – einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird.“

Dann ist Miri Aloni an der Reihe. Noch nie hat sie vor so vielen Menschen gesungen. Begleitet von arabischen Geigen und Gitarren, stimmt sie das Lied für den Frieden an, erst auf Arabisch, dann auf Hebräisch. Jitzchak Rabin und Schimon Peres stehen am Bühnenrand, als Aloni sie zu sich heranwinkt. „Das hätte sich sonst niemand getraut“, sagt sie heute, aber es habe sich in diesem Moment einfach richtig angefühlt. Rabin, als schüchterner und bescheidener Mann bekannt, liest den Refrain von einem Zettel ab und brummt leise in das Mikrofon, das Aloni ihm unter die Lippen hält:

„Darum singt einfach dem Frieden ein Lied, und flüstert ein Gebet,

doch besser: Singt mit lautem Schreien ein Lied für den Frieden.“

Während Rabin wenig später am Bühnenrand das Liedblatt zusammenfaltet und in seine Brusttasche steckt, umarmt Aloni die Frau des Premiers. „Pass gut auf ihn auf“, sagt Aloni zu ihr. „Ich gebe mein Bestes“, antwortet Lea Rabin. Aloni nimmt ihre beiden Söhne Yossef und Jeremia an der Hand und verlässt gegen 21.45 Uhr mit ihrem Mann Schmulik die Bühne. Die Rabins folgen ihr nur kurz darauf. Nach ein paar Metern fallen drei Schüsse. „Pah, pah, pah“, ahmt Aloni sie nach. Ihre Augen sind weit aufgerissen, Tränen haben sich darin gesammelt. Ihre Hand formt zitternd eine Pistole, die Neun-Millimeter-Baretta, mit der der nationalreligiöse Jurastudent Jigal Amir Premier Rabin auf dem Weg zu seinem Auto in den Rücken geschossen hat. „Wir haben uns auf den Boden geworfen, mein Sohn Jeremia schrie ‚Mami, ich will nicht sterben'“, erinnert sie sich.

„Niemand wird uns zurückführen aus dem tiefen, dunklen Grab…“

Aloni stützt ihre Stirn in die Hand. Sie zittert. „Dann rief jemand, ‚es ist nichts passiert'“. Sie sieht eine Menschentraube, Autos, die schnell abfahren. Aloni nimmt ihre Kinder und eilt davon. Später stellt sich heraus, dass es der Attentäter selbst war, der die vermeintliche Entwarnung gab. Er hatte Rabin mit zwei Schüssen in Lunge und Wirbelsäule getroffen. Als Aloni gegen 22.15 Uhr zu Hause den Fernseher anschaltet, ist Jitzchak Rabin tot. „Wir sind zusammengebrochen“, sagt sie mit belegter Stimme, „wir schrien und weinten so laut, bis unsere Söhne uns anflehten aufzuhören. Unser Herz war gebrochen.“ Die Zeilen ihres Liedes zählten zu Rabins letzten Worte, sie stehen auf einem blutgetränkten Zettel aus seiner Brusttasche.

„Niemand wird uns zurückführen aus dem tiefen, dunklen Grab;

Hier helfen weder Siegesjubel noch Freudenlieder.“

Der Terroranschlag traumatisiert das Land. Dass ein Jude einen Juden umbringt, war unvorstellbar. Mit Jitzchak Rabin stirbt der Traum vom Frieden in Nahost. Und für Miri Aloni beginnt eine neue Zeitrechnung. Der Tag, der der Höhepunkt ihrer Karriere werden sollte, wird zu ihrer größten Niederlage. Der Punkt, von dem an alles bergab ging, so sieht sie es heute.

Sie sitzt in ihrer Wohnung in Tel Aviv auf einem Lehnstuhl, den sie Prinzessinnenstuhl nennt, und hört ihre eigenen Lieder. Es ist die bequemste Sitzmöglichkeit in der Eineinhalbzimmerwohnung, in der sie mit ihrem Mann lebt. 35 Quadratmeter; Küche, Esstisch und Alonis Bett sind in einem Raum, ihr Mann Schmulik schläft im Nebenzimmer. Die Wand ist kaum zu sehen. An nahezu jeder Stelle hängen Bilderrahmen mit Fotos von der Familie, der Sängerin, Erinnerungen und Souvenirs.

Nach Rabins Tod bittet Miri Aloni den Autor des Friedensliedes, eine Zeile umzuschreiben. Sie will nicht mehr singen „lasst die Gegangenen hinter euch“, sondern „gedenkt der Gegangenen“. Rotbilt willigt ein.

Über Nacht wird Aloni das Symbol für die nationale Tragödie. In einem Land, in dem die Einwohner ständig darum ringen, die permanente Bedrohung, die Anschläge und den Krieg zu vergessen, wird die Sängerin Teil der kollektiven Verdrängung: „Niemand wollte mehr das Friedenslied hören, kein Radiosender hat mehr meine Platten gespielt.“

Ende der Neunzigerjahre steht die Sängerin vor dem finanziellen Ruin, als ein Anruf aus Deutschland kommt. Ob sie ein Konzert zur Jüdischen Woche in Berlin singen wolle? Jiddische Lieder, Chansons, Klezmer-Stücke, Interpretationen von Bertolt Brecht und Kurt Weill aus der Dreigroschenoper und natürlich das Lied für den Frieden. Aloni nimmt dankbar an, ihr Auftritt wird ein Erfolg. Sie bleibt in Deutschland, wo sie als „israelischer Weltstar“ angekündigt wird. „Die Entscheidung war schwer, ich wollte meine Familie nicht zurücklassen, aber ich musste doch Geld verdienen“, sagt sie. Doch der Durchbruch gelingt ihr auch in Deutschland nicht mehr.

Und in Tel Aviv gerät ihre Familie in Schwierigkeiten. Ihr Mann muss für eine Operation ins Krankenhaus, die Söhne kommen erst ins Internat, später schaltet sich das Jugendamt ein. Aloni holt Yossef, ihren jüngeren Sohn, nach Berlin, Jeremia bleibt in Israel. „Er hat sich verraten und verlassen gefühlt“, sagt sein Bruder Yossef heute. „Das habe ich auch, aber trotzdem wollte ich bei meiner Mutter sein.“ Yossef, 28 Jahre alt, ist heute Musiker. Er nimmt gerade eine Platte auf, seine Mutter soll darauf im Hintergrund singen. Ab und zu werden die beiden auf Konzerte eingeladen, meistens zu einem Gastauftritt, oft vor weniger als hundert Zuhörern.

An einer der Wände hängt ein ausgeblichenes Foto. Ein junger Mann, ernster Blick, rasiertes Haar, freier Oberkörper, dicke Goldkette. Jeremia ist Rapper. Er will zu seinen Eltern Kontakt haben. „Ich werde es mir nie verzeihen, dass ich meine Kinder verlassen habe“, sagt seine Mutter. „Jeremia ist sehr wütend auf mich, und ich verstehe ihn. Ich wünsche mir so sehr, dass er nach Hause kommt.“ Wäre der 4. November 1995 nicht gewesen, sagt sie, könnte Jeremia noch bei ihnen sein.

„Erhebt eure Augen in Hoffnung, schaut nicht durch Zielfernrohre,

singt ein Lied der Liebe, nicht des Krieges.“

Nach einigen Jahren kehrt Aloni nach Israel zurück. Wieder steht sie vor dem Nichts. Freunde erzählen ihr von dem Künstlermarkt an der Carmel-Straße. Seit mehr als zehn Jahren singt die 65-Jährige – sofern es ihre Bronchitis zulässt – zweimal in der Woche am Eingang des Marktes ihre Lieder. „Als ich sie da zum ersten Mal gesehen habe, war ich geschockt“, sagt der bekannte Radio-Moderator Yoav Kutner. „Ich dachte, sie bettelt jetzt, ich habe mich für sie geschämt. Aber als sie eine Weile beobachtet habe, dachte ich, sie macht das mit Würde. Sie gibt sich nicht auf.“

Seit 46 Jahren singt sie das Friedenslied. Immer wieder fragen die Menschen danach. „Es vergeht kein Tag in meinem Leben, an dem ich nicht auf Rabin angesprochen werde“, sagt sie. Der Frieden in Nahost ist fern, die Gespräche stagnieren, das Misstrauen in der Gesellschaft nimmt zu. Miri Aloni, die heute noch vom Frieden träumt, sitzt auf der Straße. Die Israelis werfen ein paar Schekel, die Mühe ist lobenswert, aber illusorisch. Vor ein paar Jahren hat Miri Aloni ein Lied geschrieben, es heißt „Lashir ad Klot“:

„Sing, bis zum letzten Atemzug!“

Foto: Sebastian Cunitz

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