Hit the road (hard!)

Während die einen vor einer langen Reise Abenteuerlust sammeln, sammle ich vor einer Reise Ängste. Was, wenn das Flugzeug abstürzt, wenn ich gekidnappt oder von einer Malaria-Mücke gestochen werde? Kaum am Ziel angekommen, sind diese unkonkreten Ängste wieder auf dem Weg nach Hause (wo sie bis zur nächsten Reise auf mich warten) und konkrete Ängste vor Ort lösen sie ab. Schnell wird klar: Das wahrscheinlich gefährlichste auf einer Reise durch Indien ist der Straßenverkehr. Wenn ich den überlebe, bin ich meinem 33. Geburtstag ein Stück näher gekommen.

Jeder, der schon mal eine Busfahrt in Indien gemacht hat, weiß aber, dass das nicht so einfach ist. In den Bus steigt nur, wer kein Zugticket mehr bekommen hat oder sonst nicht viel zu verlieren hat. Der Fahrer sieht aus wie 15. Ich glaube, er ist 15. Das würde auch erklären, warum man nie eine Fahrschule sieht. Learning by doing. Trial and error. Er sitzt auf etwas, das aussieht als wäre es mal ein Stuhl gewesen, aber vor langer Zeit an Altersschwäche gestorben ist. Geblieben ist nur sein Skelett. Über ihm hängen Blumenketten und Götterbilder. Sein Fahrstil ist eine einfache Gleichung: Vollgas addiert mit Vollbremsung ergibt eine Vollschleuderung für die Fahrgäste. Also los, Schwung holen, 80 km/h mitten in der Stadt, es gibt eine Spur und den Gegenverkehr, keine Ampeln, keine Verkehrszeichen, keinen Bürgersteig. Die einzige Regel: ‚Jeder fährt so schnell und laut er kann’.

Während es mich zwischen der Wand und meinem Nachbarn hin und herschlägt wie einen Eidotter in der Schüssel, bevor er in die Pfanne gehauen wird, zähle ich, wie oft das Kind am Steuer hupt. 21! mal in einer Minute. Meine Ohren dröhnen, das wilde Hupen vermischt sich mit der indischen Dudel-Musik, die aus den drei Lautsprechern über mir quillt, als wäre sie auf der Mission, nicht eher Ruhe zu geben, bis jeder im Bus taub ist. Hupen kann für die anderen Verkehrsteilnehmer bedeuten:

  1. Bleib, wo du bist, ich überhol dich jetzt. Links oder rechts, das weiß ich noch nicht
  2. Ich klebe an deinem Heck, komm ja nicht auf die bekloppte Idee, zu bremsen oder
  3. Ich bin da und mache Lärm
super fast

Super fast!

Der Fahrer hält beide Spuren für seine. Nach der letzten Bodenwelle, die er wie eine Sprungschanze genutzt hat, um im Verkehr voran zu kommen, holt er jetzt zum Überholen aus: Einen Fahrradfahrer, der gerade von einem Scooter, der gerade von einem Tuk-Tuk, das gerade von einem Auto überholt wird. Klar, da hat unser Bus schon noch Platz. Wir lehnen uns weit in den Gegenverkehr, obwohl uns drei Tuk-Tuks und ein LKW entgegenkommen, die auch gerade nebeneinander fahren, weil die Gegenspur so schön leer ist. Ich sende ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl ich vor kurzem aus der Kirche ausgetreten bin. Das ist jetzt aber ein Notfall! Kein Wunder, dass die Leute in Indien so religiös sind – bei diesem Verkehr.

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Santhi heißt Frieden. Diese Busse sind nicht friedlich!

Ein Handy klingelt. Es ist das des 15-Jährigen. Während er überholt, hupt und den Lenker mit der linken Hand rumreißt, drückt er mit der rechten auf dem Handy rum. Aufgepasst! Er bremst, als gäbe es kein Morgen (und das gibt es wahrscheinlich auch nicht!), weil jetzt eine Kuh mitten auf der Straße steht. Im Gegenverkehr fädeln sich die Tuk-Tuks hupend hinter den LKW auf ihre Spur, wie bunte Wolle auf eine graue Stricknadel. Wir drehen einen Looping um die Kuh und donnern weiter. Nochmal gut gegangen. Ein letztes Stoßgebet muss ich noch verschicken: Bitte lass nächstes Mal wieder einen Platz im Zug frei sein!