Menschenmassen geben ja immer einen guten Anlass, um psychologische Amateurstudien zu erheben. In Berlin findet gerade Deutschlands größtes Filmfestival statt. Nach 10 Tagen Beobachtung sind hier meine 5 Thesen über den Filmkritiker:
1) Der Filmkritiker hat einen Minderwertigkeitskomplex
Unstreitbare These. In jeder Redaktion stehen die Redakteure, die „hard news“ produzieren – also Politik, Wirtschaft, Finanzen – auf der Hierarchieleiter auf den obersten Stufen. Klar, da oben wackelt es schon mal, nicht alle können sich halten, die Fluktuation ist deshalb groß. Unten auf dem Treppchen stehen Redakteure, die „soft news“ produzieren, Kultur, Reise, Auto, Kinderseiten – viele von ihnen sind dank geringer Fluktuation schon seit Jahrzehnten dabei. Ich hatte mal einen Chefredakteur, der rief die Ressorts in den Redaktionskonferenzen sogar nach dieser, sonst unausgesprochenen Einteilung in Hierarchien, aus. „Und jetzt die Softies mit ihren Themen bitte“. Die zuständigen Redakteure sind fast vom Stuhl gefallen.
Aus ihren Redaktionen bekommen Filmkritiker also meist nicht viel Anerkennung. Nicht anders ist es im Privaten. Stellt euch mal vor, ihr habt einen Beruf, von dem jeder euch streitig macht, dass es ein Beruf ist. Einfach mal nach Feierabend jammern ist nicht drin. Wer bei „und dann muss ich 57 Filme in 10 Tagen schauen“, stöhnt und Mitleid einfahren will, stößt meist auf Unverständnis. Beschwer dich mal nicht, ich würde gerne mit dir tauschen, das ist doch keine Arbeit, das ist Vergnügen! Wie soll man stolz auf seinen Job sein, von dem jeder meint, den könne er auch?!
3) Der Filmkritiker hasst andere Filmkritiker
Durch so ein Filmfestival wird aus einem Filmkritiker von einem auf den anderen Tag eine gefragte Person. Einmal im Jahr darf er in der Redaktion den Ton angeben, er wird gefragt, was er liefern kann und wie schnell. Das Filmfestival streichelt die verwundete Seele des Kritikers. Was er in diesen 10 Tagen an Selbstbewusstsein aufbaut, muss für den Rest des Jahres halten. Diese Bestätigung muss nach außen gebracht werden: Sichtbar trägt der Filmkritiker deshalb seinen Journalistenpass für die Berlinale schon in der U-Bahn außerhalb seiner Winterjacke. Jeder soll es wissen: 10 Tage lang wollt ihr alle meine Meinung wissen. Ich bin wichtig. Kommt ihm ein anderer Kritiker in den Weg, wird ihm bewusst, dass er ersetzbar ist. Ein bitterer Moment.
4) Der Filmkritiker geht nicht zu Pressekonferenzen
Falls er doch geht, ist er ein schlechter Filmkritiker. Dieser sitzt vor den Filmstars, die Kopfhörer auf dem Kopf für die Übersetzung der taiwanesisch-angolanischen Koproduktion, das Handy in der Hand, Computer auf den Beinen, immer am Ball, immer am Limit. Dann setzt er zur ersten Frage an die Regie an: „Inwieweit beschäftigen Sie sich mit Quantentheorie? Ich konnte in dem Film viele Andeutung dazu sehen. Ist meine Interpretation richtig?“ Welcher Künstler will schon eine Interpretation seines Werkes abgeben? Richtig, keiner! Alle anderen Filmkritiker verdrehen genervt die Augen (s. These 2), um im Anschluss eine ähnlich beknackte Frage zu stellen. Der gute Filmkritiker erspart sich den Senf, geht nach Hause und denkt alleine.
5) Der Filmkritiker ist eine arme Seele
Sein Job wird unterschätzt, er ist einsam und voller Argwohn. Muss uns der Filmkritiker jetzt leid tun? Nein, schließlich darf er in 10 Tagen 57 Filme anschauen! Das ist immer noch eine sehr schöne Aufgabe. Aber nicht immer eine leichte. Wie jeder gute Job eben.