An Jerusalem, so sagt man, lässt sich die Welt erklären. Alle bedeutenden Konflikte sind hier miteinander verwoben, der Krieg der Religionen, die Erfahrungen einer geteilten Stadt, der Kampf um Territorium, um Sicherheit und um Wasser.
Denjenigen allerdings, der das, was hier jeden Tag passiert, erklären kann, muss ich unbedingt noch kennenlernen. Ich selbst wache nämlich jeden Morgen in Jerusalem auf und habe eine Million Fragenzeichen im Kopf. Warum hasten die Ultra-Orthodoxen mit fliegenden Schläfenlocken und gesenktem Blick durch ihre Welt, ohne ihren Mitmenschen in die Augen zu sehen? Warum tragen sie Mäntel, Hüte und Röcke, die sie aussehen lassen, als hätte eine Zeitmaschine aus dem 16. Jahrhundert sie gerade auf die Straßen Jerusalems gespuckt? Warum werfen schon fünfjährige palästinensische Kinder Steine auf Soldaten und warum schänden Extremisten Gräber und Kirchenmauern der christlichen Minderheit?
Jerusalem ist Chaos und Stress. Und unglaublich unentspannt. Nach zwei Wochen habe ich immer noch das Gefühl, mich jeden Tag mit der Stadt anlegen zu müssen, um ihr ein kleines bisschen Normalität abzuringen. Ein Bekannter, dem ich nach den ersten Tagen mein Leid geklagt habe, sagte den schönen Satz: „Wer in Jerusalem mit dem ersten Tag ankommt, ist kein Mensch.“ Mein neuer Ansatz ist also, mich an die permanente Überforderung zu gewöhnen.
Die drei monotheistischen Weltreligionen zerren an Jerusalem, wie Geschwister, die sich um ein Spielzeug streiten. Jeder zieht und reißt an einem Ende, bis es kaputt geht und mindestens einer heult. Es gibt einen Ort in dieser Stadt, an dem sich die all diese Spannungen konzentrieren. Am Damaskus-Tor, an jedem Freitag. Der erhabene Durchgang markiert den Eingang in das muslimische Viertel der Altstadt. Vor dem Tor schreien Gemüsehändler den Passanten ihre Angebote für Minze, Mais, Humus und Falafel ins Ohr und auf der Al-Wad-Road Richtung Stadtzentrum folgen hunderte Gläubiger dem Ruf des Muezzin Richtung Tempelberg, um in der Al-Aqsa-Moschee das Freitagsgebet zu vollziehen.
Am Abend wird die Straße dann zudem von den jüdischen Gläubigen in Schwarz aufgesucht. Das Damaskus-Tor und die Al-Wad-Road liegen für die Ultra-Orthodoxen aus dem Stadtteil Mea She’arim direkt auf dem Weg zur Klagemauer. An dem engen Tordurchgang zwischen Orangen und Zitronen stoßen jede Woche dann zwei Welten aufeinander, alle streng bewacht von den bis zum Hals bewaffneten Soldaten. Dazwischen pilgern Mönche in ihren Kutten und Kordeln auf dem Weg zur Freitagsandacht in eine der altstädtischen Kirchen. Die Bewohner Jerusalems, die normalerweise Rücken an Rücken leben, müssen sich am Freitag gezwungenermaßen die Gesichter zuwenden, um sich in den engen Gassen der Altstadt aneinander vorbeizudrängen.
Neulich habe ich einen Orthodoxen gesehen, wie er mit Schwung angedeutet hat, seinen schwarzen Hut drei ihm entgegen kommenden muslimischen Frauen mit Kopftuch ins Gesicht schlagen zu wollen. Die Frauen sind kurz erschrocken, am Ende sind alle einfach weitergegangen. Die Stimmung am Damaskus-Tor ist zum zerreißen gespannt und die Atmosphäre so friedlich wie in Berlin am 1. Mai. Anfangs gehen alle noch raus und wollen den Feiertag genießen, doch sobald einer den ersten Stein wirft, bricht das Chaos aus.
Vor ein paar Tagen habe ich eine Katze beobachtet, die auf einem Baum saß und ihre Stirn erschöpft gegen einen Ast gelehnt hat. Genauso geht es mir in dieser Stadt auch manchmal. Dann will ich einfach nur einen ruhigen Ort finden und meinen erhitzten Kopf gegen die kühlen Sandsteinmauern von Jerusalem legen.
Wenn man sich entspannen will, muss man nach Tel Aviv fahren. Dort kann man dann für ein paar Tage so tun, als wäre man garnicht im Nahen Osten, man kann im kurzen Rock am Strand spazieren laufen und sich in einem der Cafés vorstellen, man sei irgendwo in Europa, vielleicht in Barcelona oder in Cagliari. Tel Aviv ist auch ein bisschen wie Berlin, hier interessiert sich keiner dafür, welche Religion man hat oder was man trägt.
Wenn ich in Mea Shea’rim in Jerusalem mit Hosen statt mit einem langen schwarzen Rock durchlaufe, werde ich ziemlich sicher mit Eiern beworfen. Trage ich aber genau diesen Rock in Ostjerusalem, bekomme ich dort wahrscheinlich auch Eier ab, aber diesmal von den Muslimen, die denken, ich sei eine ultraorthodoxe Jüdin. In Jerusalem hat man ständig das Gefühl, ungewollt in die Lebenswelt der anderen einzudringen. Jeder beobachtet spitzfindig, was der andere so tut, um gegebenenfalls aus der Hütte preschen zu können und lautstark zu bellen.
Nichtsdestotrotz bin ich davon überzeugt, dass es keinen besseren Ort gibt, um mehr über dieses Land zu lernen und am Ende vielleicht wenigstens ein paar Antworten auf die Fragen zu finden, die hier täglich in mir aufkommen. Jerusalem mit all seinen Spannungen und Gegensätzen fasziniert mich und fordert mich gleichsam heraus. Ich mag es, wenn ich in all dem Chaos und dem Sprachwirrwarr den hebräischen Namen der Stadt höre. „Yeruschalayim“ klingt wie ein Versprechen. Tel Aviv mag gut für die Seele sein, Jerusalem ist gut fürs Herz. Oder wie die alten Rabbiner sagten: „Wer Jerusalem Zeit seines Lebens nicht gesehen hat, weiß nicht, was Schönheit ist“.