Das Tote Meer ist in den vergangenen 50 Jahren um ein Drittel geschrumpft. Jetzt soll eine Pipeline frisches Wasser bringen
von Eva Lindner, Die Zeit, 12. Februar 2015
Shimon Shukrun könnte jeden Tag vom Erdboden verschluckt werden. Wenn er auf der Veranda vor seinem Haus steht und auf das Tote Meer hinaus blickt, wenn er zu seinem Auto geht und zum Einkaufen fährt oder wenn seine Enkelkinder zu Besuch sind und er mit ihnen im Garten spielt. Jederzeit könnte – wie in einem Hollywoodfilm – die Erde unter ihm aufreißen und ihn in einen tiefen Krater ziehen. Die Gegend um sein Haus herum ist mit Schildern gesäumt, die auf Hebräisch, Arabisch und Englisch vor Löchern im Erdboden warnen. Neben dem Bungalow des 66 Jahre alten Israelis befinden sich die Überreste eines alten Campingplatzes mit der Ruine eines Waschhauses, eines Pubs und verrostete Metallgerüste.
„Vor Jahren ist auf dem Campingplatz eine Putzfrau mit ihrem Reinigungswagen über einen gepflasterten Weg gelaufen, als plötzlich die Erde unter ihr nachgegeben hat“, erzählt Shukrun, der seit über 40 Jahren am Rande des Toten Meeres lebt. Damals hat er als Hausmeister auf dem Campingplatz, der zum nahe gelegenen Kibbuz Ein Gedi gehörte, gearbeitet. Die Frau hat den Sturz in fünf Meter Tiefe mit mehreren Brüchen überlebt. Am nächsten Tag haben die Behörden den Campingplatz geschlossen und über 400 Touristen nach Hause geschickt. Shukrun ist als einziger geblieben.
Die Putzfrau war eines der ersten Opfer der Schlucklöcher am Toten Meer. In den 80er-Jahren haben Anwohner das erste Mal einen Krater in der Erde entdeckt. Mittlerweile sind vier Verletzte und etwa 3000 Löcher dazu gekommen. Einmal ist ein Forscher in die Erde eingebrochen, 14 Stunden hat er in dem Graben ausgehaart. Als er schon nicht mehr an seine Rettung geglaubt hat, begann er, auf Klopapier Abschiedsbriefe an seine Familie zu schreiben. Schließlich hat ihn das Rettungsteam der Region, das mittlerweile auf die Bergung aus den Löchern spezialisiert ist, doch noch gefunden und herausgezogen. Die Geschichte vom Forscher im Loch kennt jeder in der Region, sie wird gerne erzählt, um Besuchern deutlich zu machen, wie drastisch die Gefahr vor Ort sei.
Betrachtet man Luftaufnahmen, gleicht das Ufer des Toten Meers einer Kraterlandschaft, wie sie auch der Roboter „Curiosity“ vom Mars schicken könnte. Mittlerweile kommt jeden Tag ein Loch dazu, schätzt die Hydrologin Carmit Ish Shalom, die im Kibbuz Ein Gedi lebt und seit vier Jahren am Toten Meer forscht. Die Schlunde reißen unmittelbar auf und sind bis zu 20 Meter breit und ebenso tief. Es gleicht einem Wunder, dass noch niemand tödlich verunglückt ist.
Die Trichter entstehen, weil der Wasserspiegel des Toten Meeres absinkt. Dem zurückweichenden Salzwasser dringt Süßwasser nach, das die unterirdische Salzschicht auswäscht. So entstehen Hohlräume, über denen die Oberfläche einstürzt. Dass das Tote Meer austrocknet, liegt wiederrum am Eingriff in den Jordan. Der einzige, einst mächtige Zufluss plätschert heute nur noch als Rinnsal ins Tote Meer. Die Anrainer, vor allem Israel, aber auch Jordanien Syrien und Libanon, dürsten nach seinem Wasser und zweigen 98 Prozent des Flusses für Haushalte, Landwirtschaft und Industrie ab.
In den vergangenen 50 Jahren hat das Tote Meer ein Drittel seiner Oberfläche eingebüßt. 2050 dürfte nur noch ein kleiner Teich übrig sein. „Das Tote Meer ist ein Spiegel dafür, wie wir unsere Umwelt behandeln“, sagt Hydrologin Carmit Ish Shalom. „Natürlich brauchen wir Süßwasser, um zu leben, aber wenn wir so weiter machen, verlieren wir diesen einzigartigen Ort.“
Kann das Tote Meer gerettet werden? Kürzlich haben sich Israel, Jordanien und die Palästinenser auf ein gemeinsames Mammutprojekt geeinigt. Nach jahrzehntelanger Verhandlung wird nun ein 180 Kilometer langer Kanal vom Roten Meer zum Toten Meer gebaut, der den Salzsee auffüllen soll. Kosten: 400 Millionen Dollar (290 Mio. Euro). Dafür sollen jährlich 200 Millionen Kubikmeter Wasser durch die Pipeline rauschen, 80 davon sollen in einer neuen Entsalzungsanlage in Jordanien zu Trinkwasser für die drei Anrainer aufbereitet werden.
Die Medien feierten die Einigung als Durchbruch angesichts der politischen Spannungen zwischen Israel und den Palästinensern und der stockenden Friedensverhandlungen. „Die Politiker verkaufen uns doch für doof“, sagt Gundi Shachal. Die deutsche Forscherin ist vor 30 Jahren nach Israel ausgewandert und lebt seitdem im Kibbuz Ein Gedi. Für die jordanisch-israelisch-palästinensische Umweltschutzorganisation Friends of the Earth of the Middle East vertritt sie die Wüstenregion am Toten Meer. „Jetzt tun alle so, als ob sie das Tote Meer retten, dabei ernten nur die Politiker Lorbeeren.“ Das Wasser aus der Pipeline lasse das Tote Meer in Wahrheit lediglich 10 Zentimeter im Jahre weniger sinken, der Wasserstand schrumpfe aber jährlich um mindestens einen Meter. Internationale Gelder lassen sich aber leichter für ein Umweltschutz-Projekt einsammeln, als für den regionalen Wasserkonsum. „Der Kanal wird das Tote Meer nicht retten, im Gegenteil, er wird die Situation nur noch schlimmer machen“, sagt Shachal.
Das Tote Meer ist weltweit ein einmaliges Phänomen. Es liegt mehr als 420 Meter unter dem Meeresspiegel und damit am tiefsten trockenen Punkt der Erde. In der Tat ist es vielmehr ein See als ein Meer, da es auf einem Kontinent liegt und nicht mit anderen offenen Gewässern verbunden ist. Da das Tote Meer keinen Abfluss hat, bleiben alle Mineralien wie Brom, Magnesium und Kalium im Wasser erhalten. Es ist zehnmal salziger als der Atlantik, bis auf Mikroben lassen sich keine Lebewesen nachweisen. Deshalb bezeichnet man das Gewässer als tot.
Der Kanalbau birgt zahlreiche Risiken. Zum einen ist der Landstrich in Jordanien zwischen dem Roten und dem Toten Meer, wo die Pipeline verlaufen soll, Erdbebengebiet. Bei Erschütterungen könnte Salzwasser in das lebensnotwendige Grundwasser gelangen. Manche Forscher vermutet zudem, dass sich bei dem Austausch der Gewässer die rotblühende Dunaliella-Alge bilden wird, die den Salzsee rotbraun einfärben könnte. Außerdem würde sich das weniger salzige und leichtere Wasser des Roten Meeres nicht mit dem Wasser des Toten Meeres vermischen, sondern oben auf schwimmen. Hinzu kommt die Bildung von Gips, der als schleimige, weiße Schicht auftauchen könnte. „Wer will darin dann noch schwimmen?“, fragt Umweltaktivistin Shachal.
Noch ist im kibbuzeigenen Spa Ein Gedi jeden Tag Badetag. Weil das Meer sich immer weiter zurückzieht, zieht ein Traktor mit zwei Anhängern die Besucher mittlerweile 1,5 Kilometer über den rissigen Boden bis zum Ufer. „Wir jagen dem Meer hinterher“, sagt einer der Rettungskräfte des Spas. Regelmäßig müssen die Angestellten Liegestühle, Duschen und Wachtürme näher zum zurückgewichenen Ufer aufrücken.
Für Touristen ist das Tote Meer ein Kurort mitten im Nahen Osten. Sie treiben unsinkbar wie Baumstämme auf der Oberfläche des Gewässers, lesen während des Badens Zeitung oder reiben sich mit dem mineralhaltigen Schlamm ein. 2013 reisten 160.000 Touristen aus Deutschland nach Israel, mehr als die Hälfte von ihnen besuchte auch das Tote Meer. Manche deutsche Krankenkasse bezahlt Neurodermitis-Patienten einen Aufenthalt an dem heilenden Gewässer.
„Wir machen jedes Jahr große Verluste im Tourismus, weil uns der Boden unter den Füßen wegsackt“, sagt Forscherin und Kibbuz-Bewohnerin Gundi Shachal. Nicht nur, dass der siedlungseigene Campingplatz geräumt werden musste, sondern auch der Dattelanbau, eine weitere wichtige Einkommensquelle für das Kibbuz, ist in Gefahr. 1500 Bäume mussten sie bereits verenden lassen, weil der Boden nachgab. Ein Millionenverlust für das Kibbuz.
Der Dattelanbau verbraucht viel Wasser. Ein Baum benötigt im Sommer in der Wüste bis zu 800 Liter Süßwasser am Tag. Generell schluckt die Landwirtschaft Israels einen großen Teil des Süßwasservorkommens. Ihr Einkommen macht allerdings nur 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. Ein fragwürdiger Ertrag hinsichtlich des Wassermangels in der Region.
Wenn dem Absinken des Toten Meeres aber nicht einmal ein Kanal für Hunderte Millionen Euro Abhilfe schaffen kann, was hilft dann, um den Verlust des Toten Meeres zu verhindern? „Das Beste wäre, den Jordan wieder zum Fließen zu bringen und die Fabriken einzuschränken, die sich am Toten Meer bedienen“, sagt Hydrologin Carmit Ish Shalom, „aber beides ist eine Utopie.“
Seit den 70er Jahren ist das Tote Meer zweigeteilt. Das untere Becken ist künstlich angelegt und in Pools eingeteilt. Die israelische Chemiefirma Dead Sea Works und die Arab Potash Company auf der jordanischen Seite pumpen Wasser aus dem Toten Meer in ihre Pools, wo es verdunstet und Salze und Mineralien abgebaut werden.
Magnesium aus dem Toten Meer findet auch Gebrauch in der deutschen Autoindustrie. „Die Firmen sind für 40 Prozent des Absinken des Toten Meeres verantwortlich, sie zahlen nichts dafür und werden auch nicht kontrolliert“, sagt Gundi Shachal. Staatliche Verträge sichern den Firmen noch jahrzehntelang zu, kostenlos Wasser abzuschöpfen. Und während der obere Teil des Toten Meeres austrocknet, droht der untere überzulaufen. Weil die Firmen das überflüssige Salz einfach in den Becken absinken lassen, steigt der Wasserspiegel an. Den Luxushotels im Süden droht regelmäßig die Überflutung.
Lässt man das Tote Meer sterben, wird sich dieses Problem zumindest von selbst lösen. Wenn der Wasserstand des Toten Meeres weiter sinkt, ist es für die Fabriken langfristig nicht mehr rentabel, in immer stärkere Pumpsysteme zu investieren.
Die Vereinigung Friends of the Earth of the Middle East würde das Tote Meer am liebsten als Weltkulturerbe der Unesco sehen, weil sich dann auch die Regierungen zur Erhaltung verpflichten müssten. Doch die Unesco stößt sich an den Industrien. Und auch die Jordanier ziehen nicht mit, schließlich wollen sie sich mit dem Kanal und möglichen weiteren Entsalzungsanlagen alle Möglichkeiten offen halten. An einem Weltkulturerbe darf baulich aber nichts mehr verändert werden.
Ist vom Toten Meer dann bald nur noch ein Teich mit einer fragwürdigen Wasserqualität übrig, werden die Touristen ausbleiben. „Die 3000 Anwohner auf der israelischen Seite wird das hart treffen“, sagt Umweltschützerin Gundi Shachal. „Aber noch schlimmer ist es für die Jordanier, da sind 45.000 Menschen, meist arme Bauern von dem Austrocknen des Toten Meeres betroffen. Immer wieder stürzen dort jetzt schon Fabriken, Tiere und Menschen in die Schlucklöcher.“
Auf der israelischen Seite wird seit Kurzem mit Hilfe von Satelliten- und Infrarotbildern gemessen, wo sich als nächstes die Erde auftut. Die Vorhersage ist beunruhigend: Ausgerechnet unter der Hauptstraße, die am Ufer entlang Richtung Süden verläuft, soll ein Loch liegen. Rechts und links der Straße ist der Boden bereits von Kratern durchzogen. Gundi Shachal hat gerade vor ein paar Tagen wieder ein neues Loch, unweit einer Autobrücke, entdeckt. „Eigentlich hätten sie die Straße schon längst schließen müssen“, sagt sie. „Die Alternative ist aber, dass sie dann weiter oberhalb durch ein Naturreservat verläuft.“ Darum wird weitergemessen.
Auch Shimon Shukrun könnte in seinem Haus neben dem alten Campingplatz von den Messungen profitieren. Vielleicht wird es reichen, ihn rechtzeitig zu informieren, bevor die Erde ihn verschluckt.