Meine vielen Ichs und ich
Eva Lindner, Journalistin, SZ Magazin, Henkersschwert

Wer sich gut zu präsentieren weiß, ist klar im Vorteil. Nur, wie geht das? Und was, wenn das Leben nicht immer rundläuft? Wir haben eine Rapperin gefragt, einen Ex-Häftling und eine Philosophin

von Eva Lindner, Zeit Wissen Magazin, 22. Februar 2022

Mach Papa stolz, werde reich und bleibe Single / Und für immer traue ich nur meinem Wort und meiner Klinge Bin geborn, um zu verliern, doch ich gewinne / Und die Tropfen an mein’n Fingern sind Blut und keine Tinte.

Das ist Liz. 23 Jahre alt. Rapperin. Ihr Song heißt Mizgeburt. Sie rappt aggressiv, abgehackt, atemlos. In den Videos posiert sie mit Drogen, Waffen, Dobermännern; in den Kulissen einer Unterwelt mit eigenen Codes, in der Gangs, Spieler und Dealer regieren. Liz präsentiert sich als deren Königin mit Rolex auf Frankfurter Hausdächern und in fetten Karren, beißt in blutige Steaks, umnebelt vom Rauch der Joints, über ihr Gesicht huscht das Flackern von Blaulicht.

Mama, ich wär gern wieder Kind. Dass du alles für mich tust, bis das Fieber sinkt / Mama, du bist meine Königin, die schönste aller Mütter, aller Löwinnen / Mama, ich bleibe da bei dir, auch wenn die Welt einbricht, bin ich nah bei dir.

Das ist Liz. 23 Jahre alt. Rapperin. Ihr Song heißt Mama. Sie rappt melodisch, gefühlvoll, verletzt. Sie erzählt von einer Kindheit mit ihrer blinden Mutter, von der Scheidung der Eltern, ihrer Jugend auf der Straße, vollgepumpt mit Ritalin. Sie offenbart, dass sie sich – als sie 14 Jahre alt war – mit Messern in ihren Arm ritzte, ihr Leben auslöschen wollte, dass sie monatelang in einer geschlossenen Klinik war, jahrelang in Therapie.

Eine Frau. Zwei Erzählungen. Zwei von vielen. Liz wechselt sie wie ihre Trainingsanzüge von Eintracht Frankfurt. Mal ist sie Drogenbaronin, mal einsames Kind. Mal glänzt sie mit ihren Diamanten unter Straßenlaternen, mal klaffen die Wunden offen auf, die sich seit ihrer Jugend in Körper und Seele gefressen haben.

Liz erzählt in ihrer Musik immer wieder eine andere Seite von sich und von ihrem Leben.

Wir alle tun das. Vielleicht nicht so extrem und öffentlich wie eine Rapperin, doch auch wir präsentieren in verschiedenen Situationen verschiedene Teile unserer Lebensgeschichte. Je nachdem, ob wir auf einem Date sind, bei einer Wohnungsbesichtigung oder beim Klas- sentreffen, ob wir gerade Spaß haben wollen oder die Liebe oder den Job unseres Lebens suchen. Aber es gibt eine große Frage, die all diese Situationen verbindet, die uns im Leben immer wieder gestellt, die nur selten so ausgesprochen wird – und die im Ganzen sowieso kaum zu beantworten ist: »Wer bist du?«

In einer lockeren Begegnung wird die Auswahl und Dramaturgie, die wir für die Antwort wählen, eine andere sein, als wenn wir eine ernsthafte Verbindung eingehen wollen. Das eine Mal präsentieren wir vielleicht eine lustige Heldengeschichte oder lassen bewusst Lü- cken, um Spannung zu erzeugen. Das andere Mal erzählen wir von unseren Tiefpunkten, Dämonen oder von Wendungen, die unser Leben nahm. Weil wir eben nicht nur eine Person auf dem einen Weg sind, sondern das Leben wie ein Sammelband aus verschiedenen Er- zählungen besteht, mal mehr, mal weniger mit einem roten Faden verbunden. Und weil die Facetten, die wir jeweils auswählen, immer nicht nur dafür stehen, wer wir sind, sondern auch: wer wir sein wollen.

Wie aber präsentiert man sich gut? Ohne zu dominant zu wirken, zu angeberisch oder zu unsicher? Es wird hier, so viel sei vorweggenommen, nicht um Power- Posen gehen, nicht um Atem- und Sprechübungen, perfekt geschliffene Lebensläufe oder rhetorische Kniffs zum Überspielen von Stresssituationen.

»Bleibe echt« ist Liz’ Leitspruch, der Claim, den sie in ihren Videos und Songs wiederholt. Mittlerweile feiern Musikmagazine die Frankfurterin als Newcomerin. Ende Januar dieses Jahres erschien ihr Debütalbum Mona Liza, das die Rap-Szene aufmischt, ihrem Insta- gram-Profil »bleibe.liz« folgen 54.000 Menschen.

Was heißt das, »echt sein«? Wie zeigt man sich »echt« im Rap, einer Branche, die die Inszenierung von Authentizität perfektioniert hat, die »real sein« zum Statussymbol erhoben hat? Liz sagt am Telefon: »Ich war immer die Harte, die Coole, die Krasse, um mir auf der Straße und als Frau im Rap Respekt zu verschaffen. Emotionen zeigen fand ich schwach. Ich wollte Geschäft und Privates trennen, mich schützen.« Sie lacht viel, ist fröhlich, verbindlich. »Rumgelaufen bin ich aber mit langärmligen Oberteilen, damit niemand die Narben auf meinen Armen sieht. Damit niemand wirklich weiß, wer ich war und wer ich bin.« Und auch das gehört zu ihr: Mit 17 zog sie allein ins Saarland, um Abitur zu machen, fuhr nach Paris, um sich die Mona Lisa anzuschauen. Oder das: Sie brach in Läden ein, stahl Geld, stand immer mit einem halben Fuß im Knast, wie sie sagt. Und das: Als der Erfolg kam, sprachen Jugendliche sie auf der Straße an, wollten ein Foto mit ihr
und sagten dann: »Du bist ja gar nicht so asozial, du bist ja eigentlich ganz nett.«

»Der Wendepunkt war für mich, als ich erkannt habe, dass ich – ob ich will oder nicht – ein Vorbild für die Kids bin«, sagt Liz. Seitdem versuche sie, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind mit ihren Ängsten, dass Rapper auch Schwächen haben. Seitdem zeigt sie ihre Narben, erzählt von ihrer blinden Mutter und wie es für sie war, wenn die anderen fragten: »Warum schielt die so komisch?«

Eine weitere Facette von sich zu zeigen helfe auch ihr selbst: Radikale Akzeptanz nennt sie das. Sie könne schließlich weder ihre Herkunft noch ihre Vergangenheit, noch die Fehler ändern, die sie gemacht habe.

Dass nicht alle Seiten von ihr immer und bei jedem auf Begeisterung stoßen, ist klar. Die einen wünschen sich die alte, knallharte Liz zurück, den anderen macht genau die Angst. Neulich habe sie ein Date gehabt. Um den Mann nicht einzuschüchtern, habe sie erst mal nicht über ihre Musik gesprochen. Doch als er sie fragte, was sie beruflich mache, zeigte sie ihm eins ihrer Videos. Er: »Sag mal, wenn ich eine andere haben sollte, stichst du mich dann im Schlaf ab?« Jetzt lacht sie laut, als sie das erzählt. Beim Date antwortete sie, er solle sich gut über- legen, ob er das wirklich machen wolle. Manchmal verrät man auch was über sich, indem man nicht alles sagt.

Die Frage ihres Gegenübers jedenfalls war, aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet, gar nicht so schlecht für ein Date. Vor einigen Jahren veröffentlichte der US-amerikanische Psychologe Arthur Aron eine Studie, die besagt, dass sich zwei Fremde schneller näherkommen, wenn sie sich persönliche Fragen stellen. Das Herzstück seiner Forschung ging um die Welt, er nannte es »36 Fragen, um sich zu verlieben«. Die gehen zum Beispiel so: »Wenn du etwas an der Art, wie du erzogen wurdest, ändern könntest, was wäre das?«, »Gibt es etwas, wovon du schon lange träumst?«. Und: »Warum hast du es nicht getan?«, »Was ist deine schrecklichste Erinnerung?«, und der Klassiker: »Wenn du wüsstest, dass du in einem Jahr stirbst, würdest du dann etwas an deiner jetzigen Lebensweise ändern?«

Wer sich nahekommen möchte, so das Studienergebnis, muss sich offenbaren, sich verletzlich zeigen. Das sieht auch die Berliner Autorin Judith Poznan so. Mit ihrem kürzlich erschienenen Debütroman Prima Aussicht hat sie einen fröhlichen Text darüber geschrieben, wie sie, statt ein zweites Kind zu bekommen, mit Freund und (erstem) Kind einen Wohnwagen kauft und den Sommer auf einem Brandenburger Campingplatz verbringt.

An einer Stelle beschreibt sie rückblickend die erste Verabredung mit ihrem Freund. Sie hatten vereinbart, sich schräge Geheimnisse übereinander zu verraten. Dating ungehemmt: »Ich erzählte ihm, meine Lieblingsbrust sei die rechte und dass ich sie beim Fernsehgucken gerne festhielte. Ich fand das sexy. Er hat dann gesagt, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Zwangsstörungen. Er sei deswegen schon mal in der Klapse gewesen. Und plötzlich war er derjenige, der sexy war.«

Der Schriftsteller Max Frisch hat schon 1972 elf Fragebögen entworfen, die Menschen ins Gespräch bringen sollen. Darin geht es um Freundschaft, Ehe, Heimat oder Humor. Halten Sie sich für einen guten Freund? Was fehlt Ihnen zum Glück? Ist es Ihnen schon gelungen, die eigenen Kinder kennenzulernen, d. h. sie nicht als Söhne oder Töchter zu sehen? Wenn man sich zeigen und einen anderen Menschen kennenlernen möchte, lohnt es sich, nicht zu lange bei den formalen Lebensabläufen zu verweilen und sich stattdessen von eigenen Haltungen, Werten und Gefühlen zu erzählen.

Denn egal ob beim Flirt, beim Nachbarschaftstreffen oder Vorstellungsgespräch, wichtiger, als die Zahlen und Fakten der Chronologie aufzuzählen, ist es, ein Gefühl der Verbundenheit herzustellen. Dafür muss man kein Seminar in Storytelling besucht haben. Aber es braucht die Bereitschaft, sich auf die jeweilige Situation und das Gegenüber einzulassen. Die Bereitschaft, im eigenen Leben nach Geschichten und Erfahrungen zu kramen, die vielleicht zu einer Brücke werden können, zum anderen hinüber. Das können kleine lustige Anekdoten ebenso sein wie große Dramen. Je nach Umstand, Lust und Laune. Wichtig ist nicht, das eigene Leben so zu verbiegen, dass es zu den vermeintlichen Ansprüchen des Gegenübers passt – sondern es mit dem, was einen umgibt, zu verknüpfen. Wo sind Überlappungen? Welche Haltungen habe ich, welche mein Gegenüber, und wie können wir sie gemeinsam weiterspinnen – oder uns aneinander reiben?

Die US-amerikanische Schriftstellerin, Professorin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou schrieb: »Die Menschen werden vergessen, was du
gesagt hast. Die Menschen werden vergessen, was du getan hast. Aber die Menschen werden nie vergessen, was sie bei dir gefühlt haben.« Nur was, wenn die eigene Geschichte so unangenehm ist, dass man sie nicht mit dem Jetzt verknüpfen will? Was, wenn man sie lieber vergessen oder ausblenden will, weil man sich schämt, sich schuldig fühlt, weil sie schmerzt?

Als Jens Söring am 17. Dezember 2019 auf dem Frankfurter Flughafen landete, nach 33 Jahren Haft in den USA, abgeschoben, frei auf Bewährung, waren die Kameras auf ihn gerichtet, und es schien, als frage das ganze Land: »Wer bist du wirklich?« Ein brutaler Doppelmörder oder ein unschuldiges Opfer, das mehr als sein halbes Leben lang zu Unrecht im Gefängnis saß?

Jens Söring war 19 Jahre alt, als die Polizei ihn wegen des Mordes an den Eltern seiner damaligen Freundin festnahm. Der Diplomatensohn bekannte sich zunächst schuldig, später widerrief er sein Geständnis. Das Gericht verurteilte ihn: zweimal lebenslang. Bis heute ist Söring nicht freigesprochen, Menschen in den USA dürfen ihn weiterhin »Mörder« nennen. Er dagegen beteuert seit mehr als 30 Jahren seine Unschuld. Gerade hat er ein Buch veröffentlicht. In Rückkehr ins Leben schreibt der 55-Jährige über sein erstes Jahr in Freiheit.

Jens Söring lächelt in die Videokamera, als er sich zum Online-Interview dazuschaltet. Sichtlich glücklich erklärt er, dass hinter ihm seine Küche zu sehen ist, in seiner ersten eigenen Wohnung überhaupt, die er nun in Hamburg bezogen hat.

Wie präsentiert man sich, wenn andere einen nur mit den Bildern eines blutigen Mordes in Verbindung bringen? Wie erzählt man von einem verschwendeten Leben? Wie kann man einer solchen eigenen Lebensgeschichte nachträglich Sinn verleihen?

Auffällig ist, dass Jens Söring viele Interviews gibt, in denen er sehr viel preiszugeben scheint. Er spricht darüber, wie ihn ein Mithäftling im Gefängnis fast vergewaltigt hätte, wie sich sein Zellenmitbewohner an seinem Bett erhängt hat, wie seine Familie mit ihm gebrochen hat. Wofür ist diese Offenheit gut? »Mein Grundproblem ist, dass ich einmal in meinem Leben gelogen habe«, sagt Söring. Ob das nach seiner Flucht und Festnahme war, als er der Polizei den Mord gestand, oder etwas später, als er vor Gericht das Geständnis zurücknahm, das weiß nur er. Seine große Frage seitdem: »Wie rede ich mit Menschen, die wissen, ich habe einmal krass gelogen? Wie gewinne ich Glaubwürdigkeit zurück?« Seine Antwort: über alles sprechen, keinen Raum für Unbeantwortetes lassen, für Interpretationen, für Annahmen. »Mir ist klar geworden, dass ich mit den Fakten zur Tatnacht niemanden überzeugen kann. Erst wenn man das Risiko eingeht, sich zu öffnen, sehen die Menschen, dass man echt ist, und hören einem zu.« Das wusste auch schon Theodor W. Adorno. In seinen Minima Moralia schrieb er über das richtige Leben: »Geliebt wirst du einzig, wo schwach du dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«

Nach seiner Rückkehr hätten ihm manche geraten, seinen Namen zu ändern, abzutauchen, neu anzufangen, sagt Söring. Aber wie sieht ein Bewerbungsgespräch aus mit einem Lebenslauf, der lediglich das Geburtsdatum und ein abgebrochenes Studium in den USA enthält? Was sollte er auf die Frage »Was machen Sie beruflich?« antworten? Und auf andere Fragen zu seinem Leben? Wie kann sich eine Freundschaft, geschweige denn eine Beziehung entwickeln, wenn einer nicht über Vergangenes reden will? »Ich kann vor meiner Geschichte nicht davonrennen. Ich hätte liebend gern ein anderes Leben gelebt, wäre gern ein normaler Typ gewesen«, sagt er. Wie das eigene Leben laufe, könne man aber nicht immer mitbestimmen. Wie man mit seiner Biografie umgehe, schon.

Jens Söring hat sich dafür entschieden, seine Geschichte zu verkaufen. Er hat ja nichts gelernt, kann nichts, außer mit Menschen und Wörtern umzugehen, sagt er. Er schreibt jetzt Bücher, ist mit einem großen Streamingdienst in Kontakt, der eine Doku über ihn plant, versucht, als Redner und Berater zu Resilienz gebucht zu werden. »Ich will etwas weiterreichen, damit die 33 verlorenen Jahre einen Wert
bekommen. Wenn Menschen sehen, da ist jemand durch die Hölle gegangen und hat es rausgeschafft, glauben sie vielleicht, dass sie es auch schaffen können.«

Wie lange trägt ein neues Leben, das auf dem alten fußt? Was ist, wenn selbst die größte Geschichte auserzählt ist? Wenn alle sie gehört haben? »Wäre das nicht wunderschön?«, fragt Jens Söring in seiner Wohnung und lächelt. Die Möglichkeit einer neuen Erzählung – vielleicht irgendwann –, das wünsche er sich.

Dass es Menschen nicht gut damit geht, wenn die Geschichte, die sie sich selbst erzählen, eine andere ist als die, die sie nach außen erzählen, sagt auch Yvonne Keßel. Sie ist Psychologin in Frankfurt am Main. Kognitive Dissonanz nennt sie das. Kognitive Dissonanz muss Rapperin Liz verspürt haben, solange sie für ihre Fans nur die krasse Straßenrapperin war, sich zu Hause aber um ihre blinde Mutter gekümmert hat. Kognitive Dissonanz hätte Jens Söring vielleicht verspürt, wenn er auf den Rat gehört hätte, die Identität zu wechseln und seine Vergangenheit zu leugnen. Kognitive Dissonanz kann ein Mann im Homeoffice verspüren, der verschweigt, dass die Kinder in Quarantäne zu Hause sind, und versucht, den Schein aufrechtzuerhalten, seiner Arbeit normal nachgehen zu können. Kognitive Dissonanz kann eine Frau verspüren, die eine lange Auszeit im Bewerbungsgespräch zu etwas anderem macht, als es für sie in Wahrheit war.

»Es ist ungesund, wenn wir Teile unserer Lebensgeschichte verdrängen, isolieren oder abspalten. Dann müssen wir die Dissonanz zwischen dem Bild, das wir von uns haben, und unserem Verhalten im Kopf auflösen, und das ist sehr anstrengend«, sagt Keßel. Gesünder sei es, Brüche im Leben zu integrieren. »Wichtig ist, rückblickend nach Erklärungen zu suchen, nach einem roten Faden im Leben, der meine Geschichte erst mal für mich selbst stimmig werden lässt«, sagt die Psychologin. Es gehe nicht darum, jedem alles über sich zu erzählen, sondern im ersten Schritt eine Antwort für sich selbst zu finden.

Wer zu einem Treffen mit alten Schulfreunden oder einem Bewerbungsgespräch gehe und seit fünf Jahren arbeitslos sei, schäme sich vielleicht. Aber wer dann lügt, dem geht es auch nicht gut. »Die Arbeitslosigkeit sagt ja erst mal nichts über mich aus, sondern mein Umgang damit«, sagt Keßel. »Wenn ich einen Weg finde, diese Erfahrung in mein Leben einzusortieren, mir zu erklären, warum das passiert ist, was ich daraus gelernt habe und wofür das vielleicht sogar gut ist, dann kann ich es auch anderen erklären.«

Fragen beim Klassentreffen können durchaus an unangenehmen Stellen bohren: »Ah, du studierst jetzt wieder?«, »Wohnst du etwa immer noch hier?«, »Ach, und du hast jetzt doch den Laden deiner Eltern übernommen?«, »Bist du echt immer noch mit dem Bernd zusammen?«. Bis alle sich verglichen haben, die Kluft zwischen den Dagebliebenen und den Weggezogenen einmal aufgegraben und notdürftig wieder zugeschüttet haben, sind meist schon ein paar Stiche versetzt worden.

Annemarie Pieper ist heute 81 Jahre alt und ist jahrzehntelang nicht zum Klassentreffen gegangen. Ihre Geschichte sei nicht vermittelbar gewesen, sagt sie. Immer habe ihr Gegenüber seine Haltung verändert, wenn sie sagte: »Ich lehre Philosophie.« Das Fach galt in den Siebzigern und Achtzigern als »Männerdomäne«, Frauen hatten da nichts zu suchen. Privat hielt sie jahrelang geheim, was sie beruflich machte. »Wenn ich mit Freunden ausging, rieten die mir, bloß nichts zu sagen.« Eine Frau, die sich in dieser Zeit unabhängig von ihrem Partner machte, sei vielen nicht geheuer gewesen. Die müsse karrieregeil und überehrgeizig sein, hieß es dann. Aber als sie 1981 auf den Lehrstuhl in Basel berufen wurde, dachte sie sich: »Leckt mich, jetzt sag ich’s.« Annemarie Pieper war eine der allerersten Frauen, die im deutschsprachigen Raum einen Lehrstuhl für Philosophie innehatten.

Im Alter von 60 Jahren gab sie ihn dann wieder auf, und zwar, um Romane zu schreiben. »Alle dachten, ich sei verrückt. Das Geld, das Ansehen, alles aufzugeben, wofür ich so hart gearbeitet habe«, sagt sie. Sie selbst aber fand, 35 Jahre an der Uni seien genug. Und als sie ihre Romane schrieb, traute sie sich auch wieder zu einem Klassentreffen. Allerdings: Wie sie den anderen da von sich und ihrem Leben erzählen wollte, kam wieder nicht so gut an – vor lauter Freude über ihre neue Tätigkeit hatte sie allen vorab eines ihrer Bücher geschickt. »Da habe ich wohl einen Fehler gemacht. Die haben mir das als Hochmut ausgelegt.«

Am meisten würden sich heute die Leute dafür interessieren, wie sie es damals geschafft habe, sich als einzige Frau unter Männern durchzusetzen. »Die Menschen sind vor allem von den unwahrscheinlichen, von den überraschenden Lebensläufen fasziniert, von den Tiefpunkten und wie man da wieder herauskommt. Welche Rolle die eigene Leistung spielte, der Zufall und das Glück«, sagt Pieper. Das lange nicht Sagbare sei heute eine ihrer häufigsten Erzählungen über sich selbst.

Und wenn es dann fertig ist, das Abklopfen beim Klassentreffen, das Bewerten, wenn sich vielleicht ein bisschen die eigene Bestätigung eingestellt hat, schon irgendwie okay zu sein, dann ist der Weg auch frei für die »Weißt du noch?«-Geschichten: Das alte Gefühl der Gruppe lebt wieder auf, die Verbindung, die Erinnerung an das gemeinsame Leben. 

Eva Lindner übt sich gerade in einer neuen Geschichte: warum sie mit ihrer Familie nach Spanien gezogen ist. Die größte Herausforderung dabei: das Erzählen in korrektem Spanisch.

Bild: Julian Baumann