Paare im Ausnahmezustand
Eva Lindner Journalismus Zeit Wissen

Das Leben mit Baby ist ja soooooo schööööön? Kann sein. Aber das erste Jahr nach der Geburt ist vor allem ein Leben am Limit. Warum tun alle so, als ginge sie das nichts an?

von Eva Lindner, Zeit Wissen Magazin, 21. Februar 2020

Neulich ziehe ich ein Schreiben von der Berliner Charité aus dem Briefkasten. Die Uni-Klinik beglückwünscht mich zu meinem Kind, das vor etwas mehr als einem Jahr auf die Welt gekommen ist, und bittet mich, an einer Studie teilzunehmen. Thema: Psychosoziale Belastungen von Eltern im ersten Lebensjahr ihres Kindes. Die Ergebnisse der Studie sollen helfen, Belastungen vorzubeugen und betroffene Familien zu unterstützen.

Während ich die Fragen beantworte, wird mir klar, was alles anders, schlimmer sein könnte. Unser Kind ist gesund, schreit weder besonders viel noch beunruhigend wenig, schläft weder besonders gut noch schlecht. Ich konnte meine Tochter stillen, sie ist ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen. Wir sind ein junges Paar, leben in der Großstadt, führen eine gleichberechtigte Beziehung, verdienen beide genug Geld, teilen uns die Kosten, die Hausarbeit, die Sorgen und den Spaß.

Und doch, wenn ich auf das vergangene Jahr blicke, mein erstes als Mutter, hat sich alles in meinem Leben verändert. Mein Körper, meine Beziehung, meine Freundschaften, meine Arbeit, mein Selbstbild, Glaubenssätze und Werte. Das vergangene Jahr war wie eine Waschmaschine. Ich wurde ordentlich durchgewalkt, und hin und her geschleudert, ich stand Kopf, war verwirrt und orientierungslos, mir wurde schwindelig. Ich habe Haare gelassen und ein bisschen Farbe auch. Am Ende bin ich weichgespült, mit ein paar Falten und erschöpft aus der Trommel gestiegen.

Elternschaft wirft grundsätzliche Fragen meiner Generation auf: nach Gleichberechtigung, Rollenverteilung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Körperbewusstsein und Sexualität. Das erste Jahr mit Kind ist vielleicht der natürlichste Zustand der Welt. Aber es ist ein Ausnahmezustand.

Am Anfang steht ein Kontrollverlust. Die Geburt meiner Tochter ist der erste Termin in meinem Leben, der sich nicht in einen Kalender eintragen lässt. Alles wabert um den sogenannten Geburtstermin herum, der keiner ist, weil er im Ungefähren liegt. Es gelingt mir nicht, mich in der Schwangerschaft auf das vorzubereiten, was kommt. Wie auch bei der vagen Verheißung: Bald ändert sich dein ganzes Leben. Inwiefern? Das verstehst Du erst, wenn es soweit ist. Meine Generation der Mittdreißiger hat für jede Befindlichkeit eine App auf dem Telefon und überlässt wenig dem Zufall. Solche Aussichten machen uns sehr nervös.

Unser Baby bekommt kein Kinderzimmer. Wofür, denke ich, es wird im ersten Jahr sowieso immer nah bei uns sein. Ich brauche meinen Schreibtisch dringender als ein Minimensch, der noch nicht laufen kann. Das Büro in ein Kinderzimmer zu verwandeln hätte aus mir, einer in Selbstständigkeit arbeitenden Frau, eine Mutter gemacht. So weit war ich noch nicht. Meine Schwangerschaft steht unter dem Glaubenssatz »Mit Kind wird nichts mehr sein wie vorher«. Da ich das Vorher aber sehr gerne mag, bemühe ich mich, so viel wie möglich davon anzuhäufen. Als Vorschuss sozusagen, so wie man am Wochenende Kraft für den Montag sammelt. Ich buche meinen und den Terminkalender meines Mannes mit Theater-, Opern-, Kino- und Freundesbesuchen voll, bis er komplett den Überblick verliert, wo er wann mit mir hingehen muss. Auf dem Sprung zu irgendeiner dieser Veranstaltungen platzt die Fruchtblase.

Ich verliere wieder die Kontrolle, diesmal über meinen Körper. Unter der Geburt tut er, was er tun muss. Nichts von dem, was aus mir herausbrüllt, -fließt, -schiebt und -drückt, habe ich im Griff. Mein Körper ist nur noch Natur, verletzlich, intim, stark. Am Ende darf ich meine Tochter unter den Armen fassen und aus mir herausziehen. Eine archaische, gruselige und zauberhafte Erinnerung. Eine, die ich aufschreiben, aber mit dem Verstand bis heute nicht fassen kann.

Die Tage danach wabern wir in unserer Baby-Blase. Stillen, schlafen, staunen. Jeder Gedanke verschwimmt sofort wieder in Unschärfe. Wir vergessen die Fragen, die wir an die Hebamme haben, schreiben sie auf, vergessen, wo. Wir rätseln und wissen nicht, was wir tun. Aber unser Kind lebt und atmet, darüber wachen wir Tag und Nacht. Irgendwann rutsche ich in etwas, das den niedlichen Namen »Babyblues« trägt. Durch die Hormonumstellung kann es zu Stimmungsschwankungen kommen, die oft nur ein paar Tage dauern. Ich erlaube mir zu zweifeln. Ein paar Tage.

Nach ein paar Wochen ist aus dem Blues ein experimentelles Jazzstück geworden, das anhebt und abflaut, unvermittelt aufschreit und im nächsten Moment leise summt. Wenn wir spazieren gehen, fühle ich mich wie gefesselt. An den riesigen Kinderwagen, mit dem ich überall im Weg stehe. An mein Kind, das an mir hängt. Die Wickeltasche nicht vergessen, Windeln, Tücher, Schnuller, Zeug. Ich sehne mich nach meiner Freiheit von früher, Geldbeutel, Handy, Schlüssel, aufs Rennrad und los. Egal wohin, egal wie lang. Allein sein. Ohne Ausziehen, Umziehen, Anziehen, »Habe ich alles?«. Windel voll, wieder von vorne. Ständig müde, kopflos, rastlos. Ich sehe meine Tochter an und frage mich, ob ich sie nicht genug liebe. Bin ich eine schlechte Mutter, die nach den vielen Jahren der Individualität nicht mehr zurückstecken kann? Warum jammere ich, wenn ich doch ein gesundes Wunschkind habe?

Ich will mein früheres Leben nicht zurück und komme im neuen nicht an. Eine Zwischenweltlerin. Ich dachte, als Mutter würde ich sofort unermesslich lieben. Müsste ich nicht vom Glück überwältigt sein? Neun Monate wuchs mein Kind im meinem Körper, und jetzt ist es mir manchmal fremd. Als müsste ich erst kennenlernen, was Teil von mir war. Nur mit meinem Mann traue ich mich über meine Gefühle zu sprechen. Er sagt, es gehe ihm genauso. Hat er zu wenig Vaterliebe? Das Wort schreibt sich ungewohnt.

Der Sommer heizt unsere Stadt auf, und mein Kind hat Durst. Ich stille unter Schmerzen. Irgendetwas klappt nicht. Am Anfang denke ich, das gehört so, will niemandem zur Last fallen. Als ich um Hilfe bitte, ist es zu spät. Ich sitze weinend vor meiner Hebamme, sie ist ratlos. Alles, was sie vorschlägt, funktioniert nicht. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, sechs Monate zu stillen, so wie es die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Also zwinge ich meinen Körper, zu leisten, was ich von ihm erwarte. Ich beiße die Zähne zusammen. Beobachte die anderen Mütter und das Wunder: Ein Körper ernährt einen zweiten. Einfach so.

Der Sommer steht unter dem Glaubenssatz »Ich kann mit Kind alles machen, was ich vorher gemacht habe«. Ich buche Yoga-Kurse für Mütter mit Kindern, schiebe den Kinderwagen ins Museum, an den See und zum Steuerberater. Ich nehme Klavierunterricht, spiele um den kleinen Rücken herum, während meine Tochter in der Trage vor meinem Bauch schläft. Sie macht alles mit, als wollte sie mir zurufen: »Entspann dich, Mama, ich nehm dir dein Leben schon nicht weg.«

Im vierten Monat beginne ich wieder zu arbeiten. Zu Hause, in Teilzeit. Wieder Zweifel. Kann ich mich überhaupt noch konzentrieren, komplex denken? Kann ich noch was anderes als stillen, wickeln, dududada? Wird sie mir fehlen und ich ihr?

Wir teilen uns die Kinderbetreuung im ersten Jahr und nutzen alles, was sich der Staat für uns überlegt hat: Elterngeld, ElterngeldPlus, Partnerschaftsbonus. Wir haben es einfacher als andere Eltern. Weil das Geld reicht, weil wir gesund sind und uns beide um beides kümmern wollen: Geld verdienen und das Baby aufziehen. Doch unser Ideal der gleichberechtigten Elternschaft prallt jäh mit der Arbeitswelt zusammen.

Ich bekomme kaum Aufträge, weil niemand schon so früh mit mir rechnet. Die meisten erwarten mich erst nach einem Jahr zurück. Tauche ich auf Veranstaltungen auf, fragen mich Kolleg*innen, wo denn mein Kind sei. Eine Frage, die mein Mann nie hört. Sie gibt mir das Gefühl, ich sollte eigentlich woanders sein. Stolz zieht mein Mann unterdessen als einziger Vater in der Mamirunde die bewundernden Blicke beim Babyschwimmen an. Freunde klopfen ihm auf die Schulter, »Toll, dass du so viel Verantwortung übernimmst«.Warum ist die Hälfte bei Männern viel und bei Frauen wenig?

Obwohl meine Freundinnen ihre Partnerschaften ähnlich leben – modern, emanzipiert, gleichberechtigt –, teilen sich die wenigsten das erste Jahr auf. Meist bleibt die Mutter zwölf Monate zu Hause, der Vater zwei. Er verdiene mehr, sei bei der Arbeit unabkömmlich, sie wolle stillen und sei froh über die Auszeit vom Job. Unzählige Argumente für ein Familienmodell, wie es unsere Eltern schon lebten. Ich will meine Freundinnen an den Schultern packen und schütteln: Jetzt stellen wir die Weichen für eine gleichberechtigte Zukunft. Wir müssen uns ändern, sonst ändert sich nie was. Jeder Vater ist im Büro ersetzbar, aber nicht zu Hause. Wir begutachten einander misstrauisch, vergleichen und bewerten.

Als mein Mann nach drei Monaten in Teilzeit zurückkehrt, findet er sich auf einer neuen Position wieder, die er nie haben wollte, die ihm nicht entspricht, die unter seinen Fähigkeiten liegt. Karriereknick nach Elternzeit, ein Klassiker, normalerweise geschrieben für das weibliche Narrativ.

Die kommenden sechs Monate teilen wir uns jeden einzelnen Tag auf, tauschen mittags Schreib- gegen Wickeltisch. Wer sich an Ersteren setzt, atmet auf. Arbeit ist unser neuer Urlaub. Wir freuen uns beide auf die Babyschicht, aber sie ist die härtere. Am Schreibtisch ist Ruhe, wir dürfen Gedanken zu Ende denken und bekommen Anerkennung für das, was wir tun. Am Wickeltisch ist Chaos, nichts ist jemals fertig, nichts aufgeräumt, keiner sagt: »Vorbildlich, wie Sie die Wundcreme auf den Babypopo aufgetragen haben«.

Unser System ist fragil, darauf ausgelegt, dass wir jeden Tag funktionieren als Berufstätige, als Eltern, als Team. Fällt einer aus, kracht alles zusammen. Ich bin krank = ich kann nicht arbeiten = ich verdiene kein Geld = ich kann mich nicht ums Kind kümmern = er kann nicht arbeiten.

Manchmal füttert er mich abends, weil das Baby endlich in meinem Arm eingeschlafen ist und wir es auf keinen Fall wachruckeln wollen. Oder wir diskutieren mit letzter Kraft, warum einer irgendwas so und nicht anders gemacht hat. Unsere Sprache verändert sich. Wo früher viel Raum für Zuneigung und Zuspruch war, herrscht jetzt oft ein Ton wie in einer Großküche. »Kannst du mal schnell …«, »Hältst du mal …«, »Hol mal kurz …«. Alles muss sofort und schnell passieren, das Baby bringt eine Dringlichkeit in unsere Beziehung, die wir vorher nicht kannten.

Die Kleine ist in kürzester Zeit zum Familienoberhaupt aufgestiegen. Anders als wir hat sie gerade die vielleicht steilste Karriere ihres Lebens hingelegt. Sie hat zwei Mitarbeiter, die alles tun, damit sie glücklich und zufrieden ist. Die machen Überstunden, denken selbstständig mit, übernehmen Verantwortung, trödeln nicht in der Mittagspause, hängen nicht am Handy, wenn die Chefin anwesend ist, sind genügsam und fordern nichts.

Und noch etwas hat neuerdings permanent Zugriff auf mich: das schlechte Gewissen. Rufen Auftraggeber mich am späten Nachmittag an, während meine Tochter gerade Bauklötze gegen die Keksdose hämmert: schlechtes Gewissen. Höre ich meinen Freundinnen nur mit halbem Ohr zu, weil ich ständig aufs Baby schaue: schlechtes Gewissen. Haben mein Mann und ich mal einen ruhigen Abend und ich schlafe um 20.30 Uhr auf dem Sofa ein: schlechtes Gewissen. Mutter, Berufstätige, Freundin, Liebhaberin: So sehr ich mich bemühe, alle Bälle in der Luft zu halten, es gelingt mir einfach nicht. Ich bin unzufrieden mit mir und meinem Körper. Mir fallen Haare aus. Ich entdecke graue Strähnen. Der Beckenboden hängt, der Bauch auch, mein Stillkörper ist darauf ausgelegt, einen Menschen zu nähren, auf nichts anderes. Einmal fragt die Bedienung im Restaurant mit einem verschmitzten Blick auf meinen Bauch, ob sich da schon das zweite ankündigt. Von wegen »Mein Bauch gehört mir«. Eine Mutter und ihr Körper sind open source. Alle dürfen mitreden. So schnell wieder schlank oder immer noch so rund. Arbeitet schon wieder oder immer noch nicht. Stillt immer noch oder schon nicht mehr. Hat ihr Kind nicht unter Kontrolle oder ist zu autoritär. Die anderen wissen es immer besser.

Einmal fahren wir von einem Ausflug mit dem Zug nach Hause. Das Abteil ist voll, Fahrgäste sitzen in den Gängen. Irgendwann fängt unser Baby an zu schreien. Wir arbeiten die heiligen Fünf ab: Hunger, Durst, Windel, Temperatur, Nähe. Nichts kann es besänftigen. Wir schwitzen, bitten um Entschuldigung. Ein junges Paar ohne Kind macht uns Platz am Fenster, lächelt uns an, fragt, ob sie irgendwie helfen können. Ihre Solidarität ist unsere Rettung. Ich will etwas sagen wie: Mein Kind ist meine größte Herausforderung, aber auch meine größte Bereicherung. Niemand triggert so sehr meine wunden Punkte und lehrt mich gleichzeitig, im Augenblick zu leben, geduldig zu sein, empathisch. Aber sie hätten es eh nicht gehört. Das Baby schreit zu laut.

Neulich war ich das erste Mal seit der Geburt meines Kindes ein Wochenende alleine zu Hause. Ich gehe durch die Wohnung. Unsere Tochter hat mittlerweile ihr eigenes Zimmer. Mein Mann und ich schlafen im Büro, wo ich tagsüber arbeite. Es ist der kleinste Raum. Im größten schläft und spielt unsere Tochter.

In der Wohnung ist alles still. Die beiden sind ausgeflogen. Ich fühle mich frei. Kein »Hat sie was Gesundes gegessen?«, »Fördere ich sie genug?«, »War sie an der frischen Luft?«. Keine Verantwortung, keine Zweifel, keine Diskussionen. Dafür Ruhe, schlafen, allein sein. Und wissen, dass die beiden wiederkommen. Es ist wunderbar. Darf ich das sagen?

Nach der Veröffentlichung des Textes im Zeit Wissen Magazin wurde ich in den Podcast „Mission Mama“ eingeladen, um über das erste Jahr mit Kind zu sprechen. Die Folge ist hier nachzuhören.