Steine gegen das Vergessen

Manche Menschen wollen ja nicht nur zu ihren Lebzeiten, sondern auch noch nach ihrem Tod kontrollieren, wie es weitergeht. Der Ort in Israel, der das am besten symbolisiert, ist der Ölberg. Er ist allen drei monotheistischen Religionen heilig. Es heißt, der Messias werde hier, wenn er denn dann kommt, das Jüngste Gericht halten und die Toten erlösen. Um sich eine möglichst gute Position in der Warteschlange zu sichern, bevorzugen Juden es, sich auf dem Ölberg begraben zu lassen.

Mehr als 150.000 Gräber bedecken den Hügel am Stadtrand Jerusalems. Statt Blumen legen jüdische Angehörige kleine Steine auf den Grabstein. Diese sollen ausdrücken, dass sie den Verstorbenen nicht vergessen. Die Christen dagegen geben sich mit Grabplatten aus Granit der Illusion hin, ein Andenken für die Ewigkeit geschaffen zu haben.

Die Angst, den Toten zu vergessen, setzt schon früh ein. Es ist die Angst davor, außer dem realen Verlust des Menschen auch noch dem Verlust der Erinnerung zu erliegen. In den ersten Tagen ist das Gedenken am intensivsten. Ständig erinnern einen Gerüche, Gespräche, Gesichter, Geschmäcker, Lieder, Farben, Nichts und Alles. Doch irgendwann wird es weniger, der Alltag kehrt zurück und mit ihm kommt das schlechtes Gewissen, nicht mehr jede Minute des Tages an den Verstorbenen zu denken.

Man überlegt sich, wann habe ich ihn das letzte Mal gesehen, gehört, eine Nachricht erhalten? Diese Bilder versucht man einzufrieren und abzuspeichern wie Fotos auf einer Festplatte, sind sie doch das letzte Lebendige, das bleibt. Irgendwann ist nicht mehr klar, beweint man den Toten, weint um sein verkürztes Leben, um seine vertanen Chancen? Oder beweint man sich selbst, den Verlust, die Trauer, die eigenen vertanen Chancen?

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Zeiten ändern sich. Man weigert sich anfangs in der Vergangenheitsform von dem Verstorbenen zu sprechen. Er ist doch noch, er war doch noch nicht. Will ihn im Präsens behalten und nicht an die Vergangenheit abgeben. Als ob einem das Imperfekt noch mehr wegnimmt, als man sowieso schon verloren hat.

Der Tod schleicht sich heimlich ins Leben. Und ist er einmal da, macht er es sich gemütlich und bleibt erstmal. Verliert man plötzlich einen Menschen, hat man schlagartig auch Angst, die anderen zu verlieren. Hoffentlich stürzt der Freund nicht mit dem Flugzeug ab, lass die Mutter vorsichtig Auto fahren, die Freundin soll beim Arzt ja keine schlimme Nachricht bekommen. Um den Tod wieder loszuwerden, ihn erstmal zu vertagen, braucht es eine gehörige Portion Leben. Einmal Leben, bitte. Ach ne, lieber gleich ein Doppeltes!

Richten kann das nur die eine. Welche die Herausforderung annimmt gegen Trauer, Angst und Hilflosigkeit. Die einzige, mit der wir auf die Erinnerung vertrauen: Die Hoffnung.

Bei Ernst Bloch geht das dann so:

„Einmal zog einer aus, das Fürchten zu lernen. Das gelang in der eben vergangenen Zeit leichter und näher, diese Kunst ward entsetzlich beherrscht. Doch nun wird, die Urheber der Furcht abgerechnet, ein uns gemäßeres Gefühl fällig.
Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt.“  (aus „Das Prinzip Hoffnung“)