Jahresanfang fühlt sich für mich immer an, wie ein neues Buch in die Hände zu nehmen: Man weiß nicht so genau, was da auf einen zukommt, man kennt die Protagonisten noch nicht, weiß nicht, wo sie einen hinführen, welche Dramen sich abspielen werden. Die Skepsis flirtet mit der Neugierde. Der Kalender ist vorne dünn und hinten dick, alle Jahresrückblicke sind gesendet, von jetzt an darf man nur in die Zukunft schauen nicht zurück. Dafür ist der Blick noch klar, nicht getrübt, wie mitten im Jahr, wenn man nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist, wann das alles eigentlich angefangen hat und wann es zu ende ist.
Die ersten vertrockneten Weihnachtsbäume liegen schon auf der Straße, obwohl noch nicht mal 6. Januar ist. Die Leute wollen ihn wieder loswerden, diesen ganzen Weihnachts-Schmu, all die aufgeladenen Symbole und Rituale, das gewollt Sinnhafte, die vielen Erwartungen.
Ich bin an Weihnachten auch immer auf der Suche. So genau kann ich gar nicht sagen nach was. Nach etwas, das sich vielleicht Weihnachtsstimmung nennt, nach diesem Zauber aus der Kindheit, nach einem Gefühl, das anders ist, als das Gefühl im Rest des Jahres. Finden tue ich es nie. ‚Ich müsste doch jetzt in Weihnachtsstimmung sein‘, denke ich dann am 24. morgens. Aber eigentlich ist es ein Tag wie jeder andere.
Eingebrockt habe ich mir das Ganze selbst. Traditionen sind das, was einen in Stimmung versetzt. Man erinnert sich unwillkürlich an das, was früher war, wenn man wieder das Gleiche riecht, schmeckt und hört. Seit ich denken kann, bin ich es, die in meiner Familie gegen Traditionen rebelliert. Mit 16 Jahren wurde ich Vegetarierin und sprengte damit die eiserne Regel, dass wir an Weihnachten immer ein riesiges Fleisch-Fondue essen. Meine Mutter musste mir also widerwillig Antipasti grillen, Tofu anschwitzen oder Dinkel einweichen. Ein paar Jahre später hat sie das mit dem Fondue ganz aufgegeben, seitdem gibt es jedes Jahr etwas anderes.
Als ich 17 war, rebellierte ich dann gegen den Weihnachtsbaum. Ich wollte nicht, dass wir zum „Fest der Liebe“ einen Baum töten und in unserem überhitzten Wohnzimmer mit besinnlichem Blick dabei zusehen, wie er jeden Tag ein bisschen mehr stirbt. Dass ich mich durchsetzen konnte, wundert mich noch heute. Seitdem gibt es ein paar Tannenzweige in Schalen und Vasen. Meine Oma hat mir die baumlose Weihnacht nie verziehen.
Weihnachten ist bei uns, wie bei den meisten, einer der seltenen Tage, an dem wir in die Kirche gehe. Bisher fand ich das immer ganz gut, die Kerzen flackern, der Weihrauch macht mich schummrig im Kopf und am Ende darf man ganz laut „Stille Nacht“ singen – ruhig schief, so machen es die anderen ja auch. Dieses Mal setzte der Effekt nicht ein. Weil ich die Tage vor Weihnachten Magenweh hatte, konnte ich keinen Alkohol trinken und zum ersten Mal dämmerte es mir: Kirche an Weihnachten ist nur schön, weil ich immer so angenehm beduselt bin? Eine ernüchternde Vorstellung.
Das Schönste an Weihnachten aber ist immer noch, mit den Menschen zusammenzukommen, die wichtig sind. Dieser Effekt wirkt immer. Mittlerweile ist mir niemand mehr böse für all die verlorenen Traditionen und Rituale. Ein bisschen hat uns das ja auch befreit von „Weihnachten muss man, Weinachten sollten wir, Weihnachten war doch schon immer…“ Wir essen, worauf wir gerade Lust haben, wir hängen kleine Strohsterne an die Zweige von der Tanne, die in unserem Garten weiterleben darf und wer in die Kirche will, geht, die anderen bleiben zu hause, trinken weiter und schauen Loriot. Alles in Ordnung. Alles wie immer.