Alles hinter sich lassen und in einem Wüstental in Jordanien mit einem Beduinen ein neues Leben anfangen – geht das? Drei Frauen aus dem Westen sind in die Felsenstadt Petra gezogen und erzählen von ihrem Mann, ihrem Traum von Abenteuer und Freiheit und dem Alltag in einem Höhlendorf
von Eva Lindner, Brigitte Woman, 01. September 2014
In der antiken Felsenstadt Petra gibt es viele Frauen, die auf Eseln reiten. Doch nur eine von ihnen sieht dabei aus wie eine Dame und nicht, als würde sie gerade eine Waschmaschine im Schleudergang zähmen. Rücken gerade, Absätze tief, Kinn hoch – „Keef haalak?“, „Wie geht’s?“, ruft Tiziana D’Angelo den Beduinen auf Arabisch entgegen. Als sei sie die Queen auf Volksbesuch, winkt sie mit der rechten Hand von ihrem Vierbeiner herab, in der linken hält sie ihre Handtasche und die Zügel. „Bello, avanti!“, ruft sie, doch das Tier legt lediglich die Ohren an und bewegt sich keinen Schritt schneller. Touristen werden aufmerksam, sehen sich um. Die Italienerin verdreht ihre braunen Augen, lacht und schwingt sich vom Rücken des Esels.
Statt Eselsgeruch weht ein Duft von blumigem Parfüm durch die staubige Wüstenluft. Auf dem Kopf trägt die Reiterin eine blau schwarze Kufiya, das quadratische arabische Tuch, zu einem Turban geknotet. Tiziana D’An gelo aus Salerno, 44 Jahre alt, ist Sängerin und Schauspielerin. Ihre Ankunft auf Esel Bello ist ihr täglicher Auftritt in Petra. „Salem aleikum, Tizi“, begrüßen sie die Beduinen und drücken ihr ein Glas Tee in die Hand. Sie winkt einem jungen Mann auf einem Pferd zu. Mit dem schwarzen Bart, den schwarzen langen Haaren und dem dramatischen Kohlestrich um die Augen sieht er ein bisschen aus wie Captain Jack Sparrow aus „Fluch der Karibik“. Aus seinem Smartphone dudelt arabische Popmusik. „Mit dem war ich drei Jahre lang zusammen“, sagt Tiziana D’Angelo, lächelt und lässt zwei Löffel Zucker in ihr kleines Glas rieseln. „Ich war die erste Frau für ihn.“
Eine spektakulärere Bühne für ihren Auftritt hätte die Italienerin sich nicht suchen können: Petra ist eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt. Vor über 2200 Jahren haben mehrere Nomadenstämme, die so genannten Nabatäer, in einem Wüstental zwischen Syrien, der Wüste Negev und Arabien ihr Königreich errichtet. Petra sollte seine Hauptstadt sein, also meißelten sie Paläste, Tempel, Gräber, Lagerhallen und Ställe aus den roten Felsen. Von hier aus beherrschte das Volk die Wasserversorgung für die Region und die Handelsroute, auf der Karawanen mit Gewürzen, Weihrauch und Seidenstoffen von Damaskus nach Arabien zogen. Zu erreichen war die Hauptstadt lediglich durch eine enge, 1200 Meter lange Schlucht, den so genannten Siq, der gesäumt ist von kirchturm hohen Felswänden.
Heute wandern vor allem Touristen durch die antike Stätte, die 2007 zu einem der „neuen sieben Weltwunder“ gewählt wurde. Doch Petra ist nicht nur die Hauptattraktion Jordaniens, sondern auch die Heimat von etwa tausend Beduinen. Die wissen genau, wie sie sich den Besucherstrom zunutze machen: Sie bieten alles an, was Touristen während ihres Besuchs brauchen oder nicht brauchen: einen Ritt auf Esel, Kamel und Pferd, Cola, Kaffee und Chips, Vasen, Kühlschrankmagnete und Tassen mit „Petra“Aufdruck. Und manch einer preist Besucherinnen auch ein „besonderes Petra-Erlebnis“ in seiner Höhle an.
Die Stimmen der jungen Männer hallen von den Felswänden wider. „Hello, brauchen Sie ein Taxi?“, fragt einer und deutet auf seinen grauen Esel, der dösend im Schatten eines Baumes steht. „Willkommen in Petra! Nehmen Sie doch lieber meinen Ferrari!“, ruft ein anderer von seinem Kamel herunter. „Nein danke“ akzeptieren sie nicht. Wer ablehnt, wird weiterbearbeitet. Die Männer wissen, dass ihre charmant aufdringliche Art am Ende meist zum Erfolg führt. Und so zuckeln täglich hunderte Touristen wie reitende Schildkröten mit Rucksackpanzern und langen Hälsen, an denen schwere Kameras baumeln, auf den Vierbeinern der Beduinen durch die rote Stadt. Tiziana D’Angelo ist vor zehn Jahren das erste Mal nach Petra gekommen, als Besucherin. Mit ihren Eltern verbrachte sie zwei Wochen in der Region. „Alle haben mir gesagt: ‚Hüte dich vor den Arabern!‘ Aber als wir ankamen, dachte ich nur: ‚Die müssen sich vor uns in Acht nehmen!‘“, sagt sie und lacht. Ihre Stimme klingt rau und tief, sie schont sie offen bar nicht. Kurz nach dem Familienurlaub ist Tiziana D’Angelo wiedergekommen, allein, diesmal wollte sie in dem Wüstenort bleiben. Sie hatte sich längst in einen Beduinen verliebt.
Wenn man die Italienerin nach Sprachbarrieren oder Kultur unterschieden fragt, legt sie die Kuppen von Daumen, Zeige und Mittelfinger aneinander und sagt: „Allora, Darling, die Beduinen in Petra haben sehr gute Instinkte. Sie wissen sehr schnell, was für eine Frau du bist.“ Die meisten Männer sprechen gut Englisch. Und sie interessieren sich für die Besucherinnen, die aus dem Ausland kommen. Weit gereiste, gebildete und nicht zuletzt sexuell erfahrene Frauen, die in ihrem Urlaub entspannt, gut gelaunt und abenteuerlustig sind. Für manch einen Jordanier sind sie die Eintrittskarte in die westliche Welt, für die sie ein Visum und eine Einladung brauchen.
Auf die Idee, ihren Freund mit nach Italien zu nehmen, wäre Tiziana D’Angelo nie gekommen. „Das ist der größte Fehler, den man machen kann. Viele Frauen bitten ihre Liebhaber, ihnen nach Europa oder Amerika zu folgen. Aber das funktioniert nicht. Ein Beduine ist doch kein Souvenir, das man mit nach Hause nimmt und das einen an den Urlaub erinnert“, sagt sie und runzelt kurz die Stirn. „Der Zauber von Petra muss in Petra bleiben, basta.“
Nach drei Jahren war zwischen ihr und dem Beduinen trotzdem Schluss. Sie erwischte ihn dabei, wie er einer Französin am Telefon seine Liebe schwor. Doch Tiziana D’Angelo ist in Petra geblieben. Sie ist eine von acht Frauen aus dem Westen, die mit den Beduinen leben. Jeden Tag reitet sie auf Bello zu ihrer Höhle, macht Feuer und kocht Abendessen und Tee. Die Italienerin lebt dort allein, ohne Mann, Familie und Kinder – eigentlich ein Tabu in der arabischen Gesellschaft. „In Petra sind die Menschen offener und toleranter, sie kennen die westlichen Kulturen“, sagt sie. „Die Beduinen sind wie meine Brüder. Wenn ich hier nachts allein vor meiner Höhle sitze, fühle ich mich sicherer als nachts in Italien am Strand.“ Alle paar Monate fliegt sie für Auftritte oder Proben in ihr Heimatland. Aber Petra lässt sie nicht los, sie kommt immer wieder hierher zurück.
Noch vor 30 Jahren gab es kaum Touristen in Petra, die 2000 Jahre alten Höhlen waren die Heimat der Beduinen. Mitte der 80er Jahre erklärte die Unesco die antike Stadt zum Weltkulturerbe. Ein paar Jahre später begab sich ein Hollywood-Abenteurer im Schatzhaus von Petra auf die Suche nach dem Heiligen Gral und machte den Anblick der 40 Meter hohen, in den Fels gehauenen Säulenfassade weltberühmt. Mit „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ sorgte Harrison Ford für Touristenströme in Jordanien. König Hussein selbst besuchte den Drehort und forderte die Beduinen auf, die Stadt zu verlassen, um Platz zu machen für Besucher aus aller Welt. Er ließ ein Dorf mit Supermärkten und Reisebüros bauen. Mittlerweile sind viele Einwohner aber wieder in ihre Höhlen zurückgekehrt.
Marguerite van Geldermalsen erinnert sich noch daran, wie es früher war. Im Alter von 22 Jahren kam die Neuseeländerin 1978 als Rucksackreisende nach Petra. Sie war eine der ersten ausländischen Frauen, die einen Beduinen geheiratet haben. Sieben Jahre lang lebten die beiden in seiner Höhle, kochten über offenem Feuer, wuschen sich an einer Quelle und schliefen auf Decken in den Felsen oder unter dem Sternenzelt. Erst später zog sie mit ihren drei Kindern in ein Haus im Dorf. Ihr Mann Mohammad starb vor zwölf Jahren an Diabetes. Die Witwe ging mit ihren Kindern nach Australien, doch nach ein paar Jahren wollten alle endgültig zurück, „nach Hause“. Heute lebt Marguerite van Geldermalsen zurückgezogen im Beduinendorf, die Zeiten, in denen sie mit den Einheimischen gesellig ums Lagerfeuer saß und Tee getrunken hat, sind vorbei. Im Wechsel mit ihrem Sohn verkauft die 58-Jährige in ihrem Laden gegenüber vom Amphitheater Schmuck und Bücher an Touristen. Deren Autorin ist sie selbst. Unter dem Titel „Im Herzen Beduinin“ hat sie ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben.
Nichts an van Geldermalsen erinnert heute mehr daran, dass sie mal als Beduinin gelebt hat. Statt der Mudraga, dem knöchellangen bestickten Kleid, trägt sie Funktionskleidung und einen hellen Stoffhut, um vor Hitze, aber auch vor Regen geschützt zu sein. Sie ist ungeschminkt, nur ein paar unauffällige goldene Ringe hängen an ihren Ohren. Ihre randlose Brille hat etwas Großmütterliches, doch unterschätzen sollte man sie nicht. Aus der Höhlenfrau ist eine Geschäftsfrau geworden. Fremdenführern bezahlt sie eine Provision, damit sie Gruppen an ihren Stand bringen. Es ist der einzige in Petra, an dem man mit Kreditkarte bezahlen kann, an guten Tagen verdient sie schon mal 150 Euro in einer Stunde. Dann lässt sie sich fotografieren und erzählt immer wieder, wie es war, in einer Höhle zu leben und von allen „Fatima“ genannt zu werden. Journalisten empfiehlt sie, ihr Buch zu lesen, statt Fragen zu stellen. Sie möchte nicht mit all den Touristinnen verwechselt werden, die eine Nacht in der Höhle eines Beduinen verbringen. Als wolle sie ihre Lebensgeschichte davor bewahren, austauschbar zu klingen, sagt sie: „Meine Liebe zu Mohammad war unschuldig und aufrichtig.“
Mohammad verkaufte damals Souvenirs und lud das Mädchen zu einer traditionellen Beduinenhochzeit ein, zum Essen am Lagerfeuer. Später machte er ihr einen Heiratsantrag. Sie verliebte sich, so kann man es in ihrem Buch nachlesen, „in einen Gentleman, in seine agile und höfliche Art, seinen Humor, die feinen Gesichtszüge und die schwarzen Augen“. Und sie verliebte sich in die Idee, eine Aussteigerin zu sein, ein exotisches, freies Nomaden leben in der Natur zu führen, weit weg von Politik, Stress, Büros, Stromrechnungen, Hypotheken, Steuererklärungen und Altersvorsorge. Aber auch fern von Heizungen, Toiletten, Kinos, Cafés, Freunden und Familie. Die Neuseeländerin lernte Arabisch, konvertierte zum Islam, schützte sich im Sommer mit einem Kopftuch vor Hitze und Staub und im Winter mit einem Schaffell vor der Kälte. Mutig sei ihre Entscheidung nicht gewesen, sagt Marguerite van Geldermalsen heute. „Ich hab das Naivste und Einfachste gemacht, was man als 22-Jährige tun kann: Ich bin bei dem Mann geblieben, den ich liebte.“
Auch Kara Cheshire hatte sich entschieden, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, um mit einem Beduinen in der jordanischen Provinz zusammen zu sein. Als Reiseführerin war sie auf die Route Kairo–Amman spezialisiert, alle paar Wochen begleitete sie eine Gruppe durch die Schluchten und über die Berge von Petra. Mit dem Beduinen Zoher verband sie erst Freundschaft, dann Liebe. Als der „Arabische Frühling“ den Nahen Osten aufwirbelte und die Syrer sich im Nachbarland gegen das Regime Baschar al-Assads erhoben, brach der Tourismus ein, und die Engländerin gab ihren Job auf. Es war Zeit für einen Neuanfang. Weil es für sie leichter war, nach Petra zu ziehen, als für ihn, nach Europa zu gehen, stand die Entscheidung schnell fest.
Die beiden zogen in ein Haus im Beduinendorf, doch weil die „wilde Ehe“ in der arabischen Gesellschaft nicht erlaubt ist, heirateten sie schon ein paar Monate später. Vieles ist ihr schwergefallen: die religiösen Gesetze des Islam zu lernen und zu akzeptieren, dass ständig Familienmitglieder im Haus waren. Es gab wenig Zeit für Zweisamkeit. Auch die Rollen in ihrer Ehe waren klar verteilt. „Ich würde es so beschreiben“, sagt sie und lächelt. „In Petra ist es heute wie in England vor 30 Jahren. Es ist die oberste Pflicht und das Bedürfnis der Hausfrau, ihren Mann glücklich zu machen. Aber dafür sind die Männer auch noch richtige Männer, selbstbewusst und stark.“ Undenkbar, dass Zoher das Geschirr oder die Wäsche gewaschen hätte. Mit Unterdrückung der Frau hätte das aber nichts zu tun, sagt Kara Cheshire. Sondern mit Respekt. Er sei immer zärtlich zu ihr gewesen und hätte alles für sie getan.
Ihre Kulturen sind trotzdem immer wieder aufeinandergeprallt. Einmal, als im Radio die Beatles liefen und sie ein Lied mitsang, fragte Zoher, wer das sei. Beatles? Von denen habe er noch nie gehört. Werte waren ihr aber wichtiger als Wissen. „Mein Leben verlief endlich ohne Stress. Von den Beduinen habe ich gelernt, mir nicht ständig Sorgen zu machen“, sagt die heute 42-Jährige. In ihrem alten Leben hatte sie einen anstrengenden Job, konnte nachts nicht schlafen, hatte das Gefühl, sich in einer Dauerschleife zu drehen: Geld verdienen, Geld sparen, Pläne schmieden, Pläne verwerfen. „Hier ist das Leben so einfach. Wann immer wir wollten, sind wir ins Auto gesprungen und in eine unserer Höhlen gefahren. Wir waren frei.“
Nach nur einem Jahr wurde Kara Cheshires Leben erneut durch einandergewirbelt. Zoher starb 2013 bei einem Autounfall. Die junge Witwe steht wieder vor einem Neuanfang – wo der sein wird, das weiß sie noch nicht. „Manchmal möchte ich einfach ins Flugzeug steigen und nach Hause fliegen“, sagt sie. Aber dort gibt es keine Erinnerung an den geliebten Mann, dort gab es ihr Leben als Frau eines Beduinen nicht. Sie will erst mal in Petra bleiben und gemeinsam mit seiner Familie die Trauer überwinden. Auf ihrem Profilfoto auf Facebook sitzt Kara Cheshire auf einer Anhöhe. Jeans, Turnschuhe, silberner Ring am Finger, sie lacht in die Kamera. Die Sonne verabschiedet sich gerade von der Wüste Petras und nimmt den Tag mit sich. Ein Mann umarmt die blonde Frau mit beiden Armen von hinten. Jeans, dunkle Haut, schwarzer Bart, Sonnenbrille, Turban, auch er lacht. Die beiden sehen glücklich aus.
Foto: Eva Lindner