Innerhalb eines Monats in Indien hab ich in einem Film mitgespielt, es gab Artikel über mich in zwei Zeitungen und ich lief in den Breaking News in Dauerschleife. Jetzt könnte man denken, klar, die Journalistin drängt in die Medien. Aber ich wollte das alles gar nicht, wirklich! Es kam so:
Auf einer nächtlichen, holprigen Tuk-Tuk-Fahrt vom Bahnhof zum Hotel in Bundi, Rajastan, rutschte mein großer Rucksack aus dem Kofferraum. Unser kindlicher Fahrer (das scheint in Indien so üblich, siehe Straßenverkehr in Indien: Hit the road (hard!)) hat sich zwei riesige Boxen und eine grelle Lichterkette in seine Rikscha montiert. Der indische Pop-Trash dröhnt uns so laut um die Ohren, dass eine Glasvitrine hätte vom Tuk-Tuk fallen können und wir hätten es nicht gehört. Als wir beim Hotel ankommen und feststellen, dass wir mittlerweile nur noch mit der Hälfte unseres Gepäcks reisen, ist es bereits zu spät. Wir fahren die Strecke fünfmal auf und ab. Erst mit dem Tuk-Tuk-Fahrer, der mittlerweile durch mein verzweifeltes Schluchzen vollkommen verängstigt ist, und später mit drei Polizisten, die kein Wort Englisch verstehen, aber trotzdem mit uns auf nächtliche Spritztour gehen. Ich glaube bis heute, dass sie nicht genau wussten, wonach wir eigentlich suchten.
Am nächsten Tag muss ich der Realität ins Auge blicken: Ich bin mitten in Indien und mein Gepäck hat sich auf das reduziert, was ich am Leib trage: Schlappen, ein T-Shirt und eine schlabbrige Hose. Ich versuche mir einzureden, dass es nur Dinge sind, die man ersetzen kann. Dass wir diese Reise machen, weil wir unser Leben auf Erfahrungen und nicht auf Besitz aufbauen wollen. Sonst hätte ich mein Geld auch für eine Eigentumswohnung sparen können. Es hilft alles nichts, mein Rucksack fehlt mir schrecklich. Ich fühlt mich wie eine Schnecke, der jemand das Haus vom Rücken gerissen hat. Wenn man reist, hat man eh wenig dabei, der Rucksack muss Schlafzimmer, Wohnzimmer und Badezimmer der eigenen Wohnung ersetzen. Wenn mir kalt war, hatte ich etwas dafür im Rucksack, wenn ich Halsweh hatte, ebenso. Mit meinem Rucksack war ich bereit für Wanderungen, Strandurlaub, staubige Safaris und zum Ausgehen. Jetzt konnte ich nur noch dastehen und in den Klamotten meines Freundes hilflos mit meinem Pass wedeln. Den hatte ich zum Glück noch bei mir.
Am nächsten Tag schlurfen wir traurig in der Stadt herum, als ein fröhlicher Einheimischer uns in ein Gespräch verwickelt. Er kann helfen, ruft er sofort, als wir ihm selbstmitleidig von unserem Verlust berichten. Wir sollen auf sein Motorrad aufspringen, er habe eine Idee. Mit uns im Gepäck steuert er die örtliche Zeitungsredaktion an. Hier sollen wir erzählen, was passiert ist, vielleicht würde ja jemand den Rucksack zurückbringen. In dem dunklen, staubigen Raum sitzen drei Männer vor Computern mit riesigen, noch staubigeren Röhrenbildschirmen und starren uns an. Wir erzählen, was passiert ist. Als wir fertig sind, schicken sie uns in das nächste Zeitungsbüro, ein paar Häuser weiter. Der Fotograf schießt ein Bild von uns, ohne vom Schreibtisch aufzustehen. Wir sollen betroffen schauen. Das Ergebnis: Auf dem Bild sehe ich aus, als hätte ich gerade 20 Inder umgelegt. Ich bekomme Angst vor mir selbst. Also ich würde mir keinen Rucksack zurückbringen. Unser fröhlicher neuer Freund drängt, nächste Station: Fernsehen.
Bei „Bundi Breaking News“ haben sie es eilig. In ein paar Minuten sollen wir auf Sendung sein, in 10 minütiger Dauerschleife, den ganzen Abend lang. Armes Indien. Der Kameramann hält einen Camcorder auf uns, den ein „Bundi Breaking News“-Aufkleber mit dem abgebrochenen Bildschirm mühsam zusammenhält. Ich versuche freundlicher zu schauen, schließlich will ich nicht, dass Indien in Zukunft Touristen das Visum versagt, aus Angst vor deutscher Grimmigkeit. Der Redakteur bittet mich auf Englisch zu sagen: „Namaste! Wir kommen aus Deutschland und haben hier in Bundi unser Gepäck verloren. Wenn Sie es finden, bringen Sie es doch bitte zu uns zurück. Vielen Dank“. Dazu soll ich auf dem Handy ein Foto von meinem Rucksack in die Kamera halten, und: betroffen gucken. Aus Angst angesichts der absurd-komischen Situation losprusten zu müssen, überlasse ich den Auftritt meinem Freund. Während er tapfer das Sprüchlein aufsagt und traurig das Handybild in die Kamera hält, als wären unsere Familien entführt worden, stehe ich daneben und versuche freundlich-betroffen in die Kamera zu schauen.
Am nächsten Tag sind wir berühmt. Nur ein paar Wochen, nachdem wir für einen indo-schweizerischen Film gecastet wurden, um westliche Touristen zu spielen, sind wir jetzt auch noch im Fernsehen und in den Zeitungen der ganzen Region zu sehen. Als wir das Hotel verlassen, laufen wildfremde Menschen auf uns zu und wollen uns die Hand schütteln. „You are famous now!“, „I saw your picture in the newspaper“, „Stars of Bundi“, rufen sie uns zu und wir winken freundlich-betroffen zurück. Meinen Rucksack hat der Medien-Hype leider nicht zurückgebracht. Aber wenigstens kann ich jetzt, wenn der Journalismus in Deutschland doof werden sollte, auf eine Karriere in Indien zurückgreifen.